Quantcast
Channel: Psiram Blog
Viewing all articles
Browse latest Browse all 588

Tödliche Medikamente und Organisierte Kriminalität

$
0
0

glotzschke… Staunend äußerst
Du zu dir: natürlich lügen sie. Aber
Dass sie so lügen!
- Peter Hacks

Peter C. Gøtzsche, Deadly Medicines and Organised Crime. How big pharma has corrupted health care. Radcliffe Publishing, London New York 2013

Es ist meine Angewohnheit, an den Seiten eines Textes Striche zu machen, wenn mir etwas neu, bemerkenswert oder des Nachprüfens würdig erscheint. In diesem Buch gibt es von knapp 300 Seiten so gut wie keine ohne Striche. Das Lese-Erlebnis ist dem bei der Öffnung der Stasi-Akten vergleichbar; Manches wusste man, vieles ahnte man, und dennoch überwältigt das Ausmaß des nachgewiesenen Betrugs. Nach jeder halben Seite habe ich die Lektüre unterbrochen: Was hast Du da eben gelesen? Jeder Absatz ein Hammerschlag.

Ich vermeide Namen, nicht um die Firma zu schonen (der Kundige wird sie ohnehin identifizieren), sondern um die anderen Großkonzerne nicht unverdient in Schutz zu nehmen:

„Wieviele Patienten hat die Firma X mit dem Medikament Y getötet? In der Studie Z wurde das Risiko für thromboembolische Ereignisse untersucht, und es gab 1,5mal mehr Fälle von Herzinfarkt, plötzlichem Herztod oder Schlaganfall unter Y als unter Placebo je 100 behandelter Patienten. Mehr als 80 Millionen Menschen sind mit Y behandelt worden, und weil 10% dieser Ereignisse tödlich sind, ist es eine grobe Schätzung, dass Y 120.000 Menschen getötet hat.“ (S. 160f)

Es handelte sich um ein Schmerzmittel, für das es genügend – in dieser Hinsicht – ungefährliche und preiswerte Alternativen am Markt gab und gibt. Und die Firma X wusste von Anfang an, dass das Medikament Herzinfarkte verursachen wird. Die Zulassungsstudien wurden absichtlich so geplant, dass sie über diese Frage keine Auskunft geben konnten; Todesfälle in den Studien wurden bei den Publikationen unterschlagen usw. usf., die ganze Bandbreite an Manipulation (Kapitel 13: „X, bei denen Patienten zuerst sterben“). Das ist kein Einzelfall, sondern nur ein Beispiel für Systemversagen. Keine beteiligte Seite kann Unschuld reklamieren: Ärzte nicht, führende wissenschaftliche Zeitschriften nicht, die Zulassungsbehörden nicht, und auch die Patientenorganisationen nicht. Das ist die Kernaussage des Buches.

Ja, es ist ernst gemeint. Der Titel des Buches ist kein Marketing-Einfall des Verlags. Popper hätte die Pharma-Industrie als Feind der offenen Gesellschaft angesehen (S. 52). Es geht hier auch nicht um ein nur historisches Problem. Im Lancet dieser Woche wird die fröhliche Fortschreibung der alten, skandalösen Missstände durch die europäische Zulassungsbehörde EMA beklagt [1]. Es gibt weiterhin keine Verpflichtung der Industrie, Studien mit negativen Ergebnissen zu veröffentlichen – niemand kann wissen, ob die publizierten Behandlungserfolge mit einer Substanz deren tatsächliche Wirksamkeit widerspiegeln. Eine Zulassungserteilung ist auch dann möglich, wenn das neue Medikament gar nicht bewiesen hat, dass es besser als die bisherige Standardtherapie ist – es könnte sogar schlechter sein; aber massiv teurer wird es auf jeden Fall.

Man beachte: nicht die medizinische Wissenschaft ist zu kritisieren, sondern ihre Verhöhnung, ihre Prostitution. Es wäre also lächerlich, die „Naturheilkunde“ oder „Erfahrungsmedizin“ als „saubere“ Alternative zu begreifen. Es ist nicht der richtige Weg, alle Tabletten abzusetzen. Auch wenn man nach der Lektüre einen anderen Eindruck haben mag: es ist nicht alles gelogen, viele Medikamente sind nötig, und es gibt auch Fortschritt.

Was kann der Einzelne tun? Fragen Sie Ihren Arzt, ob er schon von MEZIS („Mein Essen zahle ich selbst“) gehört hat, und wenn Sie sich das nicht getrauen, ob er wenigstens schon bei Alltrials (Forderung nach Vorab-Registrierung und Offenlegung aller Studien) unterschrieben hat!
http://www.mezis.de/
http://www.alltrials.org/

—————
[1] Barbui C, I Bighelli: Regulatory science in Europe: the case of schizophrenia trials. Lancet Vol 382 October 12, 2013, 1234-5; leider hinter der Zahlschranke:
http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(13)60255-X/fulltext


Viewing all articles
Browse latest Browse all 588