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Die Scientabilität, die Homöopathie und die Wissenschaftsbasierte Medizin. 1. Kritik und Kritiker

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Russel“Shall we educate ourselves in what is known, and then
casting away all we have acquired, turn to ignorance for aid
to guide us among the unknown?”
Sollen wir erlernen, was bekannt ist und uns dann, indem wir alles Erlangte fortwerfen, der Unwissenheit als Reiseführer ins Unbekannte zuwenden?

– Michael Faraday

 

Das Konzept der „Scientabilität“, vorgestellt von Christian Weymayr [1], besagt (in äußerster Knappheit), dass es ein ressourcenverschwendender Unsinn sei, die homöopathischen Absurditäten weiterhin ernsthaft zu untersuchen und so den Anschein zu erwecken, man könnte da noch etwas Wichtiges herausfinden. Weymayr stellt fest, dass die Homöopathie auf der Annahme geistartiger, immaterieller Wirkkräfte beruhe und folgert schließlich:

„Da irrelevante Studien keinen Nutzen haben, sie jedoch schaden können, indem sie etwa die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft untergraben, sollen klinische Studien zur Wirksamkeit homöopathischer Arzneien unterbleiben. … Medizinische Maßnahmen sollen nur dann in klinischen Studien untersucht werden, wenn sie sicheren Erkenntnissen nicht widersprechen.“

Das ist natürlich ein wenig schlicht gedacht. Verlangt werden könnte höchstens, dass eine öffentliche Finanzierung solcher Studien eingestellt werde (die es in Deutschland nicht oder fast nicht gibt). Für jeden, der sich ernsthaft mit der Materie auseinandergesetzt hat, ist klar: Homöopathie-Studien sind reine Marketing-Instrumente, und es dürfte kaum durchsetzbar sein, Werbung zu verbieten. Globuli sind schließlich keine Zigaretten. Auch ist keinerlei Grund erkennbar, warum sich die einschlägigen Zeitschriften zur Scientabilität bekehren und auf die Publikation solcher Studien verzichten sollten; allenfalls könnte man die Redaktionen der seriösen Fachpresse damit ein wenig kratzen.

Philosophischer Affengriff

Die Unzufriedenheit der Homöopathen mit der Scientabilität versteht sich von selbst. Die Speerspitze der Aufklärung [2] erwähnt klugerweise die Datenlage nicht, sondern hebt nahezu ausschließlich auf die Kuhnschen Thesen von Normalwissenschaft und Paradigmenwechsel ab, welche es rechtfertigten, in einer fernen Zukunft eine vernünftige Homöopathie-Erklärung zu erwarten, wer weiß. Unter Berufung auf Popper verkündet er, dass es überhaupt gar kein sicheres Wissen gebe, und mit zahlreichen Beispielen medizinischer und sonstiger Entdeckungen, die mit zeitgenössischen Theorien nicht erklärbar waren, glaubt er die These der Scientabilität zu verspotten. (An Beispielen war kein Mangel, denn letztlich war nahezu jede Entdeckung seit der Antike der bisherigen Theorie widersprechend, sonst hätte es sich ja nicht um eine Entdeckung gehandelt.) Auch war ein wichtiges Detail, welches diese Entdeckungen von der Homöopathie unterscheidet, nicht der Erwähnung wert. Es handelte sich um beobachtbare Phänomene, die in keine Theorie passten. Im Gegensatz dazu stehen die Homöopathie-Effekte, welche sich vollständig durch die bisherigen Erkenntnisse (über Placebo-Wirkungen) erklären lassen. Da ist nichts mehr unerklärlich, und wenn es da je etwas Unerklärliches gab, dann war es nie reproduzierbar. Ockhams Rasiermesser passte neben Kuhn und Popper nicht auch noch hinein in den philosophischen Affengriff der Walachschen Kampfschriften.

Doppelblind, nein danke

Linde, einst Autor der Meta-Analyse von 1997, die seinerzeit der Homöopathie eine gewisse Wirkung jenseits des Placebo-Effekts bescheinigt hatte, merkt listig an [3], dass dann z.B. „pragmatische randomisierte Studien“ wohl auch nicht scientabel seien, „in denen untersucht wird, ob Homöopathie (aufgrund dieser Wirkmechanismen [hier gemeint: Vermeidung unnötiger konventioneller Behandlung und „psychotherapeutische Effekte“]) einer konventionellen Therapie bei Neurodermitis überlegen oder zumindest nicht unterlegen“ seien. Wenn man sich genauer überlegt, was diese eigentümlichen Abweichungen vom randomisierten Doppelblindversuch methodisch bedeuten, wird man ohne weiteres geneigt sein zuzustimmen. Solche Studien wären nicht scientabel, sondern – Marketinginstrumente. Placebo wird „Placebo“ nicht unterlegen sein, das kann man einfach mal so behaupten; und wenn die konventionelle Behandlung dem Placebo unterlegen ist, dann sollte man sie schleunigst aufgeben und sich nach einer neuen umsehen. Mit entwaffnender Offenheit fügt Linde noch hinzu: „Auch in der komplementärmedizinischen Forschungsszene sind viele der Ansicht, dass placebokontrollierte Studien keine Priorität mehr haben sollten.“ Gemeint ist hier offenbar eine Versorgungsforschung nach Art der Frau Prof. Witt, die wir gelegentlich gestreift haben. In der Behauptung der (ausbleibenden) praktischen Konsequenzen der Scientabilität allerdings ist Linde plausibel.

Doch auch aus anderer, eher wissenschaftsfreundlicher Sicht gibt es Einwände gegen das Konzept der Scientabilität. Ich greife aus den Bedenken von Sebastian Bartoschek heraus:

  • die Leute verstehen das nicht -, aber dies ist nur eine verbrämte Variante des Lieblingsargumentes der Paramedizin: die Menschen wollen das;
  • der Status quo der naturwissenschaftlichen Medizin würde lediglich fortgeschrieben; die Röntgenstrahlen hätten auch der damals aktuellen Theorie widersprochen -, aber dieses Argument wird bereits von Walach benutzt, um die Scientabilität triumphal platt zu machen, s. o.

Überdies lehnt er die Sagansche Forderung nach außerordentlichen Belegen für außerordentliche Behauptungen als unverständlich und emotional wertend ab (was den Unterschied zwischen Augenzeugenberichten von Verkehrsunfällen und von Ufo-Landungen ausmacht, erklärt er aber nicht).

Mathematik und Klinische Medizin

Josef Mattes meint [4], die a-priori-Wahrscheinlichkeit der Wirksamkeit von Homöopathika sei wohl “extrem gering”, aber jedenfalls “nicht exakt null”, was er für “entscheidend” hält, denn jede von Null verschiedene a-priori-Wahrscheinlichkeit könne durch “genügend starke Evidenz” plausibel gemacht werden. Das sei die Wissenschaft, und dass dem pragmatische Gründe entgegenstünden, wolle er unberührt lassen. Klinische Forschung ist aber nicht Mathematik, sondern angewandte Naturwissenschaft; die Pragmatik lässt sich nicht aussperren. Völlig exakt wäre: wenn die Wahrscheinlichkeit gegen null strebt, wäre eine gegen unendlich strebende Anzahl von Versuchen nötig, einen Effekt nachzuweisen. Weiter meint er, die (gebotene) Berücksichtigung der “Gesamtevidenz” stehe der Scientabilität entgegen, aber vorsichtigerweise beschränkt er sich bei der Illustration dieser Ansicht auf erfundene Beispiele. Die zur Genüge real vorliegenden Homöopathie-Ergebnisse zeigen, dass die Berücksichtigung der Gesamtevidenz für die Scientabilität spricht. Die Formulierung, dass “Evidenzhierarchien Hilfsmittel zur Gewichtung, nicht zum Verwerfen von Evidenz” seien, bedeutet in der Praxis sehr wohl ein Verwerfen von Evidenz, nämlich der höherwertigen zugunsten der nicht ausreichend validierten Ansprüche.

Es scheint also angemessen, das Konzept der Scientabilität so umzuformulieren, dass es leichter fasslich wird: Es ist sinnlos, weiterhin jährlich Mars-Expeditionen zu unternehmen, um die Russellsche Teekanne auf ihrer Umlaufbahn zu finden.

Fortsetzung folgt.


  1. : Weymayr C: Scientabilität — ein Konzept zum Umgang der EbM mit homöopathischen Arzneimitteln. Z Evid Fortbild Qual Gesundh wesen (ZEFQ) 2013;107:606—610,
    http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1865921713002547
  2. :Walach H, K Fischer: Z Evid Fortbild Qual Gesundh wesen (ZEFQ) 108;2014:80.e1—80.e3, leicht erweiterte Fassung hier, leicht trivialisierte Fassung (soweit das möglich war) hier.
  3. : Linde K: Z Evid Fortbild Qual Gesundh wesen (ZEFQ) 108;2014:82.e1—82.e3
  4. : Mattes J: Scientabilität – eine Antwort auf Homöopathie? Z Evid Fortbild Qual Gesundh wesen (ZEFQ) 2014;108:229—232, online hier

Weitere Texte (unsystematische Auswahl):


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