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Der Sänger, der Bullshit und die Kultur

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Naidookalypse

Die Sympathisantenfront schließt ihre Reihen: 70.000 Euro hat es sich der Impresario des Goldenen-Brett-vorm Kopf-Preisträgers und Goldenen-Aluhut-Laureaten Xavier Naidoo kosten lassen, um in einer Kingsize-Anzeige gegen den Rauswurf des Schützlings aus der ESC-Nominierung zu protestieren. Man findet auf der Unterstützerliste manches erwartete, allerdings auch manches eher überraschende Bekenntnis. Eine breit aufgestellte Querfront scheint sich zu bilden. Sie reicht in den Verzweigungen der neuen Medien von Lutz Bachmann auf Rechtsaußen bis zu Dr. Diether Dehm auf der selbst wahrgenommenen, gelegentlich auf Montagsdemos agierenden Linken. Der Empörungsaufschrei ist dabei allerdings nicht so ganz harmonisch gestimmt, denn einerseits werden Stimmen laut, die den ausgebooteten Sangesbruder allen Ernstes damit verteidigen, er habe inhaltlich ja Recht

Warum es rechtsradikal oder -populistisch sein soll, festzustellen, daß deutschland ein grundgesetz, aber keine verfassung hat, leuchtet mir als journalist nicht ein…

Dr.Harold Woetzel

Dokumentarfilmer für die ARD/SWR Fernsehen

bis zu der mit größtmöglichem Gestus vorgetragenen These, die Verbreitung von Blödsinn sei wegen der darin zum Ausdruck kommenden Meinungsvielfalt Ausdruck von „Kultur“:

„Wir brauchen keine Gesinnungspolizei oder Meinungsüberwachung, sondern hoffentlich 80 Millionen verschiedene Köpfe und Wahrheiten. Solange niemand davon verhetzt, verunglimpft, verletzt oder ausgegrenzt wird, ist das Kultur.“

 

Dass man das, was eine verfassungsgebende Versammlung mit verfassungsgebender Mehrheit als Regelwerk der Staatsorganisation und als grundlegende Definition der Rechte des Bürgers gegenüber seinem Staat „Verfassungsrecht“ nennt, auch wenn ein anderer Name drüber steht, mag einem Dokumentarfilmer für den Südwestrundfunk schon einmal entgehen, wenn’s um die Wurst geht. Belustigend daran ist jedenfalls, auf welchen Ebenen man den Apologeten begegnet und wer das dann auch brav zitiert.

Ernster ist der Einwand mit den 80 Millionen Wahrheiten zu nehmen, die angeblich „Kultur“ konstituieren sollen, denn hier – und genau hier – liegt das gefährliche Missverständnis der Naidoo-Verteidiger; und um deutlich zu machen, dass die Ausbootung des Stars so notwendig wie die Nominierung eine Katastrophe war, genügt die Wahrnehmung von „Bullshit“ als solchem.

Tobias Hürter und Max Rauner wiesen in ihrem 2014 erschienenen Buch „Schluss mit dem Bullshit“ auf das um sich greifende Phänomen des Bullshittens hin:

Bullshitten heißt, Dinge nicht deshalb zu äußern, um jemanden über einen Sachverhalt zu informieren, über den ein Urteilen möglich ist, sondern um Eindrücke zu wecken, von denen es gleichgültig ist, ob sie wahr oder unwahr sind, und zu dem alleinigen Zweck, einen anderen je nach Opportunität zu bequatschen.

Bullshit ist die perfekte Äußerungsform in einer Welt, in der Diskurse über reale Probleme und Phänomene aufgelöst werden in ein Konglomerat prämissenfreier und damit beliebiger Narrative. Jeder kann sich in dieser Welt des beliebigen Gefasels seine eigene Welt einrichten. Stimmt sie mit dem Gefasel einiger anderer zufällig überein, trifft man sich zu mehreren (Pegida) oder wenigeren (Chemtrail-Kundgebungen) in Netzforen oder auf Marktplätzen und skandiert dort ein paar Parolen, auf die man sich ad hoc einigen konnte. Realitätsbezug: null, aber man hat eben eine eigene unter 80 Millionen Wahrheiten kundgetan.

Das Problem des Bullshittens, und auch dies haben Hürter/Rauner deutlich gemacht, ist dabei ernster, als es auf den ersten Blick erscheint; denn: die Beliebigkeit und die Gleichgültigkeit der Faselnden gegenüber realen Grundlagen ihres Faselns macht die Verständigung untereinander unmöglich.

Der Bullshitter untergräbt die Grundlagen der zivilisierten Kommunikation überhaupt… Würden wir dauernd Blödsinn reden, dann würde die Bedeutung der Wörter und Sätze, die wir sprechen erodieren.

(Hürter/Rauner aaO. S.21)

Wenn man beispielsweise im Ernst nicht einmal mehr eine Verständigung über Merkmale eines materiellen Verfassungsrechtsbegriffs oder selbst über die Auf- und Untergangszeiten des Mondes

Warum steht nirgendwo in der Bibel, daß der Mond auch tagsüber geschienen hat. Ich könnte genauso behaupten: Wir haben es so toll getrieben, daß nun der Mond sogar tagsüber scheint.

herbeiführen kann, kann man über keine Frage, die mit realen Verhältnissen irgendwie zusammenhängt, noch bullshitmiteinander reden. Allenfalls anschreien geht dann noch – willkommen in der Welt der 80 Millionen Wahrheiten. Das, ihr Lieben aus der Unterstützerfraktion von Mario Adorf bis Antje Vollmer, müsstet Ihr erst noch begreifen lernen. Die Unterminierung von Kommunikation erreicht ihren Gipfel, wenn tatsächlich 80 Millionen „Wahrheiten“ mit inkompatiblen Sprachen gegeneinander anschreien – oder ansingen, das kommt aufs Gleiche heraus. Man kann wohl 80 Millionen verschiedene Geschichten erzählen – aber nicht 80 Millionen verschiedene Geschichten mit Wahrheitsgehalt. Was dabei herauskäme, wäre dann nicht „Kultur“, verehrter Herr Grönemeyer, sondern deren kakophones Ende.

Und hier liegt der Grund, weshalb ein Sänger erst gar nicht hätte nominiert werden dürfen, der sich in jedem öffentlichen Auftritt, in dem er Farbe bekennen musste, als Bullshit auf zwei Beinen zu outen wusste. Die Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands hätte gerade in ihrem Selbstverständnis als Kulturinstitution einen Künstler, der mehrfach unter Beweis stellte, dass er Sprach-, Gedanken- und damit Kulturverwirrung verbreitet, erst gar nicht als ihren Repräsentanten nominieren dürfen. Dass sie in der Lage war, eine aberwitzige Fehlentscheidung rasch zu korrigieren, hat ein ganz böses Zeichen für die Sprech- und Debattenkultur in unserem Land gerade noch verhindert. Das zu leugnen und dem Bullshit eine Gasse erstreiten zu wollen, das ist mehr als die Story um einen Sänger mit seltsamen Ansichten das eigentliche Kulturdesaster.


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