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Ethikrat und Hirntod

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Wie unsere treuen Leser wissen, greifen wir gelegentlich das Thema „Hirntod“ auf, weil uns scheint, dass hier in der öffentlichen Wahrnehmung viel im Argen liegt. Vor einiger Zeit hatten wir Dr. Matthias Mindach für einen Gastbeitrag gewinnen können. Inzwischen haben sich sowohl der Deutsche Ethikrat als auch die Bundesärztekammer erneut positioniert. Das war uns Anlass nachzuforschen, ob es dazu Stellungnahmen gibt. Wir freuen uns, dass wir einen weiteren Gastbeitrag von Dr. Mindach präsentieren können.


Der Deutsche Ethikrat hält in seiner Stellungnahme „Hirntod und Entscheidung zur Organspende“ vom 24. Februar 2015 am Hirntod als Voraussetzung („Kriterium“) der Organentnahme fest. Doch nimmt die These von einer Nicht-Identität von Tod und Hirntod in der Stellungnahme breiten Raum ein. Der Rat stellt dazu eine Reihe von ethischen, juristischen und philosophischen Überlegungen an. Aus klinischer Sicht ist dieser These zu widersprechen. Außerdem ist zu konstatieren, dass solche Überlegungen nur wenig dazu beitragen können, die Verunsicherung und Desorientierung weiter Teile der Bevölkerung in der Frage des Hirntodes abzubauen.
[Dies ist eine erweiterte, überarbeitete Fassung eines zuerst in Fortschr Neurol Psychiatr. 2015 publizierten Beitrags (Volltext hier). Die Druckfassung ist in „Aufklärung und Kritik“, Heft 1, 2016 erschienen (Volltext hier); dort auch die vollständigen Literaturangaben.]

Einleitung

Der Deutsche Ethikrat hat im Februar 2015 seine Stellungnahme zu Hirntod und Organspende veröffentlicht. Nötig sei sie geworden, weil seit einer Veröffentlichung durch den US-amerikanischen President’s Council on Bioethics über die Kontroversen zum Hirntod von 2008 eine vertiefte Diskussion erforderlich sei. Am Tag ihres Erscheinens wurde die Stellungnahme von den medizinischen Fachgesellschaften begrüßt, da sie im Ergebnis am Konzept des Hirntods als Kriterium für die Organentnahme festhalte; aber es sei ein genauerer Blick auf dieses Papier mit einem Umfang von 200 Seiten gestattet.

Aus fachlicher Sicht stellt sich der geschichtliche Ablauf ein wenig anders dar. Seit seiner Etablierung im Jahr 1968 hatte sich das Hirntodkonzept international durchgesetzt. Im Jahr 1998 veröffentlichte A. Shewmon eine Serie von 175 Fällen, davon 56 mit ausreichender Verlaufsinformation, des „Überlebens“ Hirntoter für länger als eine Woche nach der Hirntoderklärung. Damit war klar, dass die alte Vorstellung, der Hirntod sei der Tod des Menschen, weil der Körper danach unausweichlich zerfalle, nicht zutrifft. In der nachfolgenden Fachdiskussion zeigte sich, dass es andere überzeugende Gründe gibt, den Hirntod als sicheres Zeichen des Todes anzusehen. Das White Paper des President’s Council ist eine Reaktion auf diese Diskussion, nicht deren Ursache. Die Rezeption dieses Papiers in Deutschland ist aber der Grund für das erneute Tätigwerden des Ethikrates. Wie dem auch sei, festzuhalten ist, dass die wesentlichen empirischen Befunde im Grundsatz seit 1998 bekannt sind. Die Frage im Untertitel des Forums Bioethik 2012 „Hirntod und Organentnahme. Gibt es neue Erkenntnisse zum Ende des menschlichen Lebens?“ wäre korrekt zu beantworten gewesen mit: „Nicht in den letzten dutzend Jahren“.

Doch zurück zur Stellungnahme. Bereits die Einleitung ist geeignet, Nachdenklichkeit auszulösen. Sie behält sich ausdrücklich vor, nicht darüber „vorentscheiden“ zu wollen, „wie der Tod zu verstehen ist“ (S. 9, Fußnote 2); die Vorstellung also, es gäbe kein Drittes zwischen Tod und Leben, ist offenbar naiv. Zum „Hirntod“ (auch im Originaltext hier in Anführungszeichen) stellt man fest, dass er „verbreitet mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt“ werde (S. 9). Das ist zweifellos korrekt, denn auf der ganzen Welt hat sich diese Auffassung weitgehend durchgesetzt; selbst in Ländern, in denen religiöse Einwände erhoben werden. Es deutet sich also in der Stellungnahme des Rates eine Distanz an – eine Distanz, wie sie sich übrigens auch in den deutschsprachigen Zeitschriften für medizinische Ethik findet. Um das Fazit dieser Anmerkungen vorwegzunehmen: „Allgemein ist man der Ansicht, dass zwei plus zwei gleich vier ist“, wäre eine Aussage vergleichbarer Qualität.

Es folgt der Abschnitt „2.2. Ablauf der Organspende in Deutschland“, dem der Abschnitt „2.2.2. Hirntoddiagnostik“ untergeordnet ist. Dadurch könnte nahegelegt werden, dass die Hirntodbestimmung lediglich im Rahmen der Organtransplantation bedeutsam sei und keinen eigenständigen Stellenwert besitze. Dies begünstigt eine funktionale Sicht auf den Hirntod, die von der historischen und tatsächlichen Situation her nicht gerechtfertigt ist. „Die Diagnostik des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls stellt ein für die Intensivmedizin unverzichtbares Instrument der Prognoseeinschätzung für weitere Therapieentscheidungen dar, unabhängig von der Frage einer Organ- oder Gewebespende. Es ist davon auszugehen, dass in Deutschland nur etwa jede zweite Diagnostik im Kontext einer postmortalen Organ- oder Gewebespende erfolgt.“ (Bundesärztekammer)

Juristische Aspekte

Der Rat erklärt zum geltenden Transplantationsgesetz, dass vor einer Organentnahme der Tod des Spenders festgestellt sein und zudem der Hirntod diagnostiziert worden sein müsse (S. 18). Tatsächlich aber kommt das Wort „zudem“ im Text von § 3 TPG gar nicht vor; es ist lediglich davon die Rede, dass die Entnahme bei fehlender Hirntodfeststellung unzulässig sei. Ob noch zusätzliche Kriterien bestehen können, wird vom Gesetz nicht festgelegt; der Gesetzgeber hat nur die ausschließliche Festschreibung des Hirntodkriteriums vermieden. Es handelt sich somit nicht explizit um eine zusätzliche Forderung, was auch der Absicht der Mehrheit im Parlament entsprach. Die Formel ist allein aufgrund politisch-taktischer Überlegungen in letzter Minute in den Gesetzgebungsprozess gelangt (s. hier). Die Überinterpretation durch den Rat ist dabei kein zufälliger Fehler, denn der Abschnitt 2.3.2. (S. 34 ff.) legt ausführlich nahe, dass der Hirntod in einer nicht näher bestimmten Weise nicht identisch mit dem Tod des Menschen sei. Schließlich müsse ersterer ja laut Transplantationsgesetz „darüber hinaus“ festgestellt werden (S. 37). Allerdings, heißt es weiter, habe die Bundesärztekammer es bisher pflichtwidrig unterlassen, die Differenz herauszuarbeiten:

Dieser Regelungspflicht ist die Bundesärztekammer bisher nur im Rahmen der Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes (§ 3 Abs. 2 Nr. 2) nachgekommen. [53] Jedenfalls existieren bis heute keine gesonderten Richtlinien zur Todesfeststellung nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 TPG. (S. 36)

Da ist es naheliegend, dass der Gesetzgeber nun selbst aktiv werden sollte, denn überdies ist die Zuständigkeit der Bundesärztekammer nicht selbstverständlich:

Über die vorstehend skizzierten Probleme hinaus wirft die Regelungskonzeption des Transplantationsgesetzes weitere Fragen auf. Diese betreffen etwa die Geltungs- und Bindungskraft der Richtlinien der Bundesärztekammer [57] und die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Delegation von Normsetzungsmacht auf eine privatrechtlich organisierte Instanz wie die Bundesärztekammer. (S. 37)

Das in Fußnote 57 angeführte Urteil des Bundesverfassungsgerichts stellt (nebenbefundlich) fest, dass „die Richtlinien der Bundesärztekammer auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht“ überprüft werden können. Das ist im Grundsatz einleuchtend, doch lassen sich Schlussfolgerungen unterschiedlicher Plausibilität ableiten. So war die Legitimität der Richtlinien zur Hirntodfeststellung schon von Stoecker hinterfragt worden, als er von einer „Deutungshoheit“ sprach, die die Bundesärztekammer „sofort“ „an sich gezogen“ hätte. Bereits aus der Wortwahl Stoeckers ergibt sich, dass er sie quasi für usurpiert hält. Wichtige Vorüberlegungen zu diesen Punkten hatte seinerzeit der Philosoph Paul Feyerabend angestellt, der gegen die ausschließliche Deutungsmacht der Wissenschaft aufgetreten war. Es ist aber, wie erwähnt, eher zu bezweifeln, dass der Gesetzgeber seinerzeit positiv unterstellt hat, Tod und Hirntod seien voneinander zu unterscheiden. So bleibt verwunderlich, dass der Ethikrat es hier unterlässt, dem Gesetzgeber konkrete Vorschläge zu machen, wie er auf die nunmehr erkannte Nicht-Identität von Tod und Hirntod reagieren sollte. Auch taucht am Horizont die interessante Frage auf, ob wohl der Energieerhaltungssatz der Überprüfung durch Gerichte zugänglich wäre.

Diagnostische Aspekte

Der Abschnitt, in dem die Hirntoddiagnostik geschildert wird, kann im Wesentlichen akzeptiert werden, doch auch hier fehlt es nicht an potentiell irreführenden Formulierungen. Es heißt beispielsweise, dass die „Abgrenzung verschiedener Bewusstseinsbeeinträchtigungen wie etwa Bewusstlosigkeit, Wachkoma (apallisches Syndrom) oder minimal vorhandenes Bewusstsein (minimally conscious state) vom Hirntod“ mitunter schwierig sein könne (S. 20). Das ist jedoch nicht der Fall, denn Wachkoma und minimally conscious state lassen sich mit einem Blick vom Hirntod abgrenzen; dazu bedarf es keinerlei apparativer Untersuchungen. Die angegebene Literatur handelt u. a. von der Unterscheidung zwischen Wachkoma und minimal vorhandenem Bewusstsein, aber von Hirntod ist nicht die Rede. Dieser Verwischung klarer Grenzen begegnet man bereits in der fehldeutenden und fehlleitenden Hirntod-Kritik durch Müller. Darauf wird zurückzukommen sein. Auch meint man, dass es „[n]ach der derzeitigen Datenlage“ „nicht angezeigt“ sei, „ein bestimmtes apparatives Zusatzverfahren generell als verpflichtend zu benennen“ (S. 21). Das ist im Prinzip korrekt, aber es könnte die (falsche) Schlussfolgerung gezogen werden, dass die eingeführten Verfahren mangels Überprüfung irgendwie insuffizient seien. Auch hat die Bundesärztekammer keinen Anlass gesehen, in den aktuellen Hirntodrichtlinien vom März 2015 davon abzurücken, dass der Hirntod mit rein klinischer Untersuchung, das heißt ohne apparative Zusatzuntersuchungen, festgestellt werden kann – es wäre verfehlt, dies als Verlegenheitslösung zu bewerten.

Organprotektion

Im Weiteren fordert der Ethikrat eine gesetzliche Regelung für sogenannte organprotektive Maßnahmen (S. 43). Diese Bedenken beruhen auf der Überlegung, dass die organprotektiven Maßnahmen dem Wunsch des Patienten widersprechen könnten, der sich möglicherweise einerseits explizit gegen lebenserhaltende Maßnahmen ausgesprochen habe, andererseits aber einer Organspende zugestimmt habe. In ihrem Inhalt unterscheiden sich jedoch die organprotektiven Maßnahmen vor dem Tod nicht von einer gewöhnlichen Therapie, solange noch um das Leben des Patienten gerungen wird. Verf. schließt sich deshalb dem Sondervotum (S. 173ff) an, welches eine solche Regelung aus einer Reihe von Gründen als nicht gerechtfertigt ansieht. Ein zusätzlicher Aspekt soll noch Erwähnung finden. Andernorts in der Stellungnahme wird auf in der Bevölkerung verbreitete Befürchtungen verwiesen, dass „potentielle Organspender … zu früh oder in sonst unangemessener Weise ‚als Spender‘ behandelt und somit ‚als Patient‘ unterversorgt [meine Hervorhebung] werden“ könnten. Das ist empirisch belegt: „44 Prozent derjenigen, die eine Organspende ablehnten, gaben an, dass sie Angst davor hätten, Ärzte täten nicht mehr alles, um ihr Leben zu retten.“ (S. 144). Die Bedenken bezüglich der organprotektiven Maßnahmen zielen aber eher auf Vermeidung einer „Überversorgung“ – und dies auf der Basis einer hypothetischen Konstellation, für die sich in der Fachliteratur kein einziger realer Fall findet, wie eingeräumt wird (S. 27). Bei der angegebenen Literatur handelt es sich um ein Arbeitspapier einer einzelnen Klinik.

Todesverständnis und Todeskriterium

In Abschnitt 3 (S. 51ff) bemüht sich der Ethikrat um eine Begriffsklärung von „Todesverständnis“ und „Todeskriterium“. Die Analyse beginnt mit der Strukturierung:

Ein erster Schritt besteht darin, das Todesverständnis zu bestimmen. Dabei kann man den Tod zum Beispiel ansehen:
• als Ende des personalen Lebens im Sinne des Verlusts der für das Menschsein als essenziell angesehenen mentalen Funktionen oder im Sinne des Verlustes menschlicher Beziehungsfähigkeit;
• als Verlust der leiblichen Einheit bzw. als Ende der funktionellen Ganzheit des Organismus;
• als vollständiges Absterben aller Lebensvorgänge im gesamten Körper. (S. 51)

Bereits diese Ausgangsbasis der Analyse kann nicht unbesehen hingenommen werden. Es scheint sich hier um eine Begriffsbestimmung a posteriori zu handeln, die eine absichtsvolle Lücke lässt. Wenn der Tod (allein) den Verlust der menschlichen Beziehungsfähigkeit bedeuten würde, wäre dies eine Rechtfertigung des sog. neokortikalen Todes. Wenn man das „Ende der funktionellen Ganzheit“ als Begriffsbestimmung des Todes in Kenntnis der empirischen Befunde (Möglichkeit einer Langzeitbeatmung hirntoter Körper) annimmt, dann bedeutet dies die Ablehnung des Hirntodkonzepts. Die Annahme des „vollständigen Absterbens aller Lebensvorgänge im gesamten Körper“ als Begriff des Todes führt zu absurden Schlussfolgerungen, z. B. des Weiterlebens des Individuums als verpflanztes Organ. Offensichtlich ist keine der drei angebotenen Varianten eine brauchbare Beschreibung der Realität. Es erstaunt also, an dieser Stelle nicht die unmittelbar evidente Vorstellung erwähnt zu sehen, dass der Untergang des Gehirns der Individualtod des Menschen ist. Seit der Antike wird die Vorstellung vom Gehirn als Sitz der Seele diskutiert (übrigens waren bereits damals die Philosophen unschlüssig; die Ärzte – Hippokrates, Galen – hingegen sicher). Christoph Lang hat darauf verwiesen, dass bereits die theoretische Vorstellung einer Hirntransplantation völlig abwegig ist. „Jeder würde prompt und intuitiv sagen, dass das Gehirn einen neuen Körper bekäme und nicht umgekehrt.“

Der Tod ist kontextuell. Als der Mensch nichts als seine fünf Sinne hatte, war das Sistieren der Atmung das definitive Kriterium des Todes. Mit der Akzeptanz des Stethoskops wurde der Herzschlag das entscheidende Zeichen. Die Todesfestlegung durch neurologische Kriterien wurde erst mit der technologischen Entwicklung möglich und notwendig; der Terminus „Hirntod“ ist insofern unglücklich und verwirrend, als er für etwas anderes als den „eigentlichen“ Tod gehalten werden könnte. Die Bundesärztekammer hat sich in ihrer jüngsten Fortschreibung bemüht, diesem Umstand Rechnung zu tragen und verzichtet auf den Begriff; allerdings sind auch Begriffe wie „Unfalltod“ oder „Herztod“ geläufig und unumstritten. Darüber hinaus ist der Begriff international eingeführt und scharf umrissen. Der Versuch, alternative Termini (z. B. Hirnversagen, „total brain failure“ oder „brain arrest“) einzuführen, wird nicht zur Klarheit beitragen und birgt andere Probleme.

Dann heißt es: „Demgegenüber können Kritiker der Hirntodkonzeption, ohne einen logischen Fehler zu begehen, den vollständigen Ausfall der Hirnfunktionen als operationales Kriterium akzeptieren, ohne diesen Sachverhalt als propositionales Kriterium anzuerkennen.“ (S. 52) Diese Formulierung erinnert an die Einsicht Birnbachers, dass die Hirntoddefinition, „auf kontrafaktische Bedingungen angewendet“, „krass kontraintuitiv“ wäre (was übrigens impliziert, dass sie, auf reale Bedingungen angewendet, intuitiv ist), wie auch an den jüngsten schlagenden Beweis ihrer Unstimmigkeit mittels aristotelischer Syllogismen. Das ist im Kern ein instrumentalistisches Verständnis der medizinischen Wissenschaft; es ruft Osianders Vorrede zum Kopernikus ins Gedächtnis. Aus der Sprache der elaborierten Sophistik zurückübersetzt bedeutet es: ich erkenne den Hirntod nicht als „eigentlichen“ Tod, als biologisches Faktum, an. Was das Wesen dieses Todes im Unterschied zum Hirntod ausmacht, lasse ich offen, ziehe aber die praktischen Konsequenzen in genau der gleichen Weise, als hätte ich ihn anerkannt. Diese Art der Logik wird sich möglicherweise nicht jedem sofort erschließen.

In einem langen Exkurs (S. 53ff) legt der Ethikrat sodann die Auffassung einer Reihe von Philosophen zum Tod dar, wobei das letzte Wort Heidegger überlassen wird. Wir erfahren beispielsweise, was Thomas von Aquin über den Tod dachte. Aber es scheint für den Rat uninteressant, sich die pathophysiologischen Abläufe zu vergegenwärtigen, die dem Hirntod zugrunde liegen. Damit hätte allgemeinverständlich herausgearbeitet werden können, dass es sich bei den Richtlinien der Bundesärztekammer zur Hirntodfeststellung nicht um willkürliche Setzungen handelt, die je nach metaphysischer Vorliebe modifiziert werden könnten. Ein kurzer Blick auf die Diskussionen in der Öffentlichkeit, insbesondere in die ungefilterten Regionen des Internets, kann darüber belehren, dass in dieser Frage wild wuchernde, frei flottierende Ängste das Bild dominieren. Es ist nicht von vornherein sicher, ob der Verweis auf die „aristotelisch-thomistische Denktradition“ oder auf die „phänomenologische Analyse von Körper und Leib“ diese Ängste hinreichend beruhigen wird.

Weitere Überlegungen kreisen um den Begriff der „Lebensweltkompatibilität“, womit gemeint ist, dass Hirntote den Anschein der Lebendigkeit aufwiesen. So entstünden kognitive und affektive Dissonanzen, die „nicht als Ausdruck eines wissenschaftlich naiven und unaufgeklärten Bewusstseins verstanden werden“ könnten (S. 64). Daraus ließe sich, böswillig, eine patriarchalische Sorge um den Erhalt der Unaufgeklärtheit herauslesen. Eine derartige Haltung mag auch der Hintergrund der Denunziation der Vermittlung wissenschaftlich fundierter Kenntnisse als Manipulation („Übertölpelung“) sein, wie sie von Maio versucht worden ist. Es ist unbestreitbar, dass beim Erleben des Todes anderer Menschen kognitive und emotionale Aspekte ineinandergreifen. Da beide Aspekte zweifellos äußeren Einflüssen offen sind, ist dieses Erleben nicht natur- oder gottgegeben invariant, sondern kann sich mit der Entwicklung der Kenntnisse differenzieren und die Realität (eben den Tod des Individuums Mensch mit dem Tod seines Gehirns) einbeziehen. Auch im Weiteren werden die „üblichen Anschauungen“ des „sogenannten Laien“ als solche in ihrer Historizität nicht untersucht; der philosophische Exkurs stellt die Auffächerung der Auffassungen zum Tod lediglich als reine Geistesgeschichte dar. Die Geschichtsschreibung vertritt die Ansicht, dass es eine kontextunabhängige, „natürliche“ Art der Todesfeststellung nie gegeben hat. Wenn die Begleitung sterbender Angehöriger auf der Intensivstation zunehmend mehr „zum kulturellen Hintergrund gewachsener lebensweltlicher Erfahrung“ gehört, dann wird auch diese „menschliche Grunderfahrung“ einem Wandel unterliegen und nicht mehr der Erfahrung entsprechen, die gewonnen wurde, als die Menschen mit allenfalls priesterlichem Beistand im eigenen Heim entschliefen. Sie kann nicht allein aus der Lektüre antiker, mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Philosophen und Theologen deduziert werden. Was den Rückgriff auf mediävale Philosophie angeht: „Auch die heftigste Kritik an der Gegenwart reicht nicht aus, einen solchen Fluchtversuch zu begründen“, sagt Kurt Flasch, der es wissen muss. Die Todeskonzeption ist keine unveränderliche, unbeeinflussbare, hinzunehmende Konstante.

Im Grunde ist der Anscheinsbeweis der „Lebensweltkompatibilität“ die empirische Basis für die Stellungnahme des Ethikrates; medizinisch-naturwissenschaftliche Erkenntnisse stehen demgegenüber in der Bedeutsamkeit zurück. Dieser Vorgang ist nicht ohne Beispiel in der Geschichte der Naturwissenschaften.

Wie erwähnt, bleibt ein weiterer Aspekt der Hirntoderklärung in der Stellungnahme des Ethikrats weitgehend unreflektiert. Die Erscheinung des Hirntods ist ein objektiver Umstand, ein Produkt der Intensivmedizin. Sie würde nicht verschwinden, auch wenn es für sämtliche (anderen) Organe einen künstlichen Ersatz gäbe und eine Organspende somit überflüssig würde. Das Hirntodkonzept ist nicht in erster Linie für die Transplantation geschaffen worden – das ist ein verbreiteter Irrtum, dessen Bekämpfung lohnend gewesen wäre –, auch wenn es dafür einen sicheren Scheidepunkt liefert. Es besticht durch seine Einfachheit, seine Plausibilität. Die Hirntoddiagnostik zählt zu den sichersten Methoden, die die Medizin überhaupt zu bieten hat; ihre Sicherheit ist mit derjenigen der konventionellen Leichenschau vergleichbar. Wenn der Vorsitzende des Ethikrats 2012 in seiner Eröffnung des Forums Bioethik zu dieser Frage ausführt, „dass dieses Hirntodkriterium, also der irreversible Funktionsausfall des Gesamthirns, aus medizinischer Sicht nicht hundertprozentig sicher“ sei, so ist aus medizinischer Sicht zu erwidern: Gewiss mag eine metaphysische, absolute, Sicherheit wünschenswert sein, aber sie nicht erreichbar. Erreichbar ist eine klinische Sicherheit, die als Handlungsgrundlage taugt.

Kontroverse

In der Kontroverse über die Hirntodkonzeption (Abschnitt 4.2., S. 71ff) fasst der Ethikrat die unterschiedlichen Meinungen in dieser Frage zu zwei Positionen zusammen. Die Position A, die Ansicht der Mehrheit, sieht den Hirntod als Kriterium des Todes, während Position B im Hirntod keine hinreichende Bedingung für den Tod des Menschen sieht. Sie vergleicht z. B. die selbständige Atmung mit der Herzfunktion, die ebenfalls extern gestützt werden könne, so dass der Atmungsausfall nicht den Tod kennzeichnen würde (S. 90ff), und fragt:

„Warum sollte ein irreversibel komatöser (jedoch nicht ‚hirntoter‘), aber spontan atmender Patient mit künstlichem Herzschrittmacher lebendig, ein ebenfalls irreversibel komatöser und zugleich beatmungspflichtiger (‚hirntoter‘) Patient mit selbstständig schlagendem Herz dagegen tot sein?“ (S. 92)

Aber die Atmung ist im Gegensatz zur Herztätigkeit, die autonom sein kann, eine robuste Hirnfunktion und nur als solche in der Hirntoddiagnostik bedeutsam, auch wenn das im traditionellen religiösen Kontext gelegentlich anders gesehen wird. Seine Legitimität zieht dieses Gedankenexperiment aus der Verwischung klarer Grenzen zwischen Hirntod, Koma und Wachkoma/minimal consicous state (s. o.). Es ist sehr schwierig und mit heutigen Mitteln kaum je sicher möglich festzustellen, ob wirklich bei einem schwerstgeschädigten, aber offenkundig lebenden Patienten („irreversibel komatös“, aber spontan atmend) das letzte Fünkchen Bewusstsein für immer erloschen ist. Hier zeigt sich, wie nachteilig es ist, dass grundlegende pathophysiologische Sachverhalte (Druckverhältnisse im Schädelinnern, gesetzmäßige Abfolge von Hirngewebsuntergang und Symptomatik bei zunehmendem Hirndruck) außerhalb des Fokus der Stellungnahme liegen. Überdies ist in der realen Welt nicht zu erwarten, dass jemand auf Dauer die klinischen Kriterien des Komas erfüllt; regelhaft findet der allmähliche Übergang in das Wachkoma oder den minimal conscious state statt. Es scheint nicht, dass sich der Rat von der Haltung Birnbachers (s. o.) getrennt hat, kontrafaktische Bedingungen zu untersuchen, weil sie denkbar sind. Dagegen wäre im Grundsatz nichts zu sagen, solange man nicht versucht, daraus praktische Schlüsse zu ziehen, und solche Überlegungen zur Grundlage beispielsweise der Aufklärung in den Medien und am Krankenbett zu machen.

Insgesamt wäre zu folgern, dass beim irreversiblen vollständigen Funktionsverlust des Gehirns ein Zustand zwischen Tod und Leben angenommen werden muss, für den es bisher keine Begrifflichkeit gibt („noch Lebender in einem im Endstadium arretierten Sterbezustand“, S. 98). Auf die Dead-Donor-Regel, nach der Organe nur von Toten entnommen werden dürften, solle verzichtet werden (S. 96f). Die empirischen Gründe, die für Position B angeführt werden, stützen sich im Wesentlichen auf eine Stellungnahme von Shewmon 2001. Nur am Rande sei vermerkt, dass die Vertreter der Position B es offenbar für unnötig gehalten haben, die Ausführungen Shewmons noch einmal im Detail mit den bekannten Tatsachen abzugleichen. Wenn die Position B im Anschluss an Shewmon beispielsweise behauptet, dass es ein Wachstum und die sexuelle Reifung eines hirntoten Kindes gegeben habe (S. 87), dann hält das einer Überprüfung nicht stand. Shewmon selbst spricht in seinem Vortrag im Forum Bioethik des Deutschen Ethikrates 2012 von einer „sexual maturation of brain-dead children“, aber in seiner Declaration zum Fall McMath behauptet er das Gegenteil: „Neither do corpses undergo sexual maturation“ (aus dem Kontext ist klar, dass mit „corpse“ hier nur „hirntoter Leichnam eines Kindes“ gemeint sein kann). Wenn die „Lebensweltkompatibilität“ es unmöglich machte, den Hirntod als Tod anzuerkennen – welche Auswirkungen hätte es, wenn man das aussetzende Herz eines hirntoten Körpers ausschalten und den Kreislauf mittels einer Herz-Lungen-Maschine oder eines Kunstherzens aufrechterhalten wollte? Das wäre zwar abwegig, aber technisch machbar bzw. in Reichweite und somit immer noch weit weniger entrückt als manche der Überlegungen von Hirntodkritikern.

Es bleibt unerörtert, welche praktischen Konsequenzen aus dieser Position im Unterschied zur Feststellung des Hirntodes als Tod des Menschen zu ziehen wären. So wird eingeräumt, dass auch im Fall des irreversiblen Funktionsverlustes des Gehirns die Einstellung der Beatmung ethisch geboten sei (S. 98). Allerdings scheinen die Vertreter von Position B vor gewissen Schlussfolgerungen zurückzuschrecken, die sich unausweichlich aufdrängen. Konsequenter sind Rady und Verheijde von der renommierten Mayo Clinic, Phoenix, Arizona, USA. Unter Hinweis auf die wissenschaftliche Evidenz (gemeint sind die Shewmonschen Auffassungen) stellen sie fest, dass der Hirntod nicht der Tod des Menschen sei und daher eine Organentnahme dem Moralkodex des Islam widerspreche. „Utilitaristische Interpretationen“ von Koran und Sunnah seien abzulehnen, und die Anwendung eines irrigen Todeskriteriums verletze die religiösen Werte rechtgläubiger [observant] Muslims. Belegt wird dies mit der Autorität einiger Koranverse. Ganz ähnlich argumentiert Prof. Josef Seifert von der „Päpstlichen Akademie für das Leben“; wenn auch unter Verzicht auf die Koranverse. Im Ausgleich bietet er eine Erklärung, weshalb die Medizin so zurückhaltend in der Akzeptanz dieser Ansicht ist: die finanziellen Aspekte der Organtransplantation seien ein wesentlicher Grund für das dogmatische Festhalten am Hirntodkonzept.

Die Position B wird von sieben der insgesamt 26 Mitglieder des Ethikrats vertreten. Es sind dies die Vorsitzende, Frau Prof. Christiane Woopen (Professur für Ethik und Theorie der Medizin; eine „sturmerprobte Katholikin“, FAZ vom 26.09.2014), drei Juristen (davon einer zeitweise der Synode der Evangelischen Kirche angehörig) und zwei Theologen. Ein Mediziner mit klinischer Erfahrung oder gar Kenntnissen der Neurologie oder Intensivmedizin ist nicht darunter. Die drei Vertreter des Sondervotums bezüglich der Organprotektion (s. o.) dagegen sind aktuell klinisch tätig.

Der Ethikrat sieht sich dennoch nicht gehindert, im Abschnitt „Schlussfolgerung und Empfehlungen“ (S. 166ff) für die individuelle Entscheidung zur postmortalen Organspende zuallererst ausdrücklich zu fordern: „Dabei sind auch die Argumente, die für und gegen das irreversible Erlöschen aller Hirnfunktionen (Hirntod) als Todeskriterium vorgebracht werden, darzulegen.“ Es ist also auch über Ansichten aufzuklären, die von der Mehrheit des Rates als falsch angesehen werden. Das wird sicher die Verwirrung vermindern und zu einer fundierten Entscheidung beitragen. – Es ist aber zu fürchten, dass manche Fachleute die Argumente gegen den Hirntod nicht mit der gebotenen Objektivität und Klarheit vorbringen können, weil sie deren Stringenz nicht voll erfasst haben.

Schlussfolgerung

Gibt es prinzipiell einen empirischen Zugang zu der Frage, ob der Hirntod der Tod des Menschen ist? Wenn nein, dann ist die Festlegung ausschließlich Sache einer Konvention. Aber wenn ja, dann muss die Realität als Realität und nicht als letztlich zweifelhafte, weil der oberflächlichen Wahrnehmung und der hermeneutischen Philosophie widersprechende, Chiffre wahrgenommen werden. Die Erkenntnis vom Hirntod als dem Tod des Menschen beansprucht Validität per se. Sie ist in sich schlüssig, und sie hat die Naturwissenschaft auf ihrer Seite. Es ist kein Fall bekannt, in dem eine lege artis durchgeführte klinische Hirntoddiagnostik durch eine Rückkehr von Hirnfunktionen widerlegt worden wäre.

Selbstverständlich ist es möglich, gesellschaftliche Übereinkünfte zu erzielen, die diese Evidenz in Abrede stellen, wie das in einigen Ländern der Fall ist. Abschaffen lässt sie sich aber nicht. Der jüngste Fall der dreizehnjährigen Jahi McMath in den USA, deren Mutter den Hirntod nicht akzeptiert und darin die Unterstützung der Öffentlichkeit gefunden hat, erzeugt Verunsicherung bis in die Fachliteratur. Da keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, erschöpft sich die Debatte in einer steten Wiederholung der alten Argumente, die bereits einer umfassenden Würdigung unterzogen worden sind. Wenn eine Lehre aus dem Fall McMath zu ziehen ist, dann ist es diese: einmal für die rationale Weltsicht gewonnenes Terrain ist nicht für alle Zeiten gewonnen, sondern muss weiterhin gegen Missverständnisse, Verwirrungen und irrationale Ängste verteidigt werden. Der Beitrag des Deutschen Ethikrates hierzu hätte größer sein können.


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