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Das Elend der Volkshochschulen (2) – Erfurt

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Auch die Landeshauptstadt Erfurt unterhält die örtliche VHS als Teil der kommunalen Verwaltung in Form eines Eigenbetriebs. Das Bildungsprogramm orientiert sich, den „Leitlinien“ zufolge, an den „individuellen Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger der Stadt Erfurt und dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“. Das klingt an sich nicht schlecht, also schaun wir mal!

Das Programm der VHS Erfurt ist über 400 Seiten stark; rund 330 Seiten entfallen auf die Darstellung der angebotenen Kurse. Die Kurse selbst jagen den kritischen Betrachter durch ein Wechselbad der Eindrücke – sehr beachtliche naturwissenschaftliche Angebote, unterrichtet durch ausgewiesene Lehrkräfte, findet man gleichrangig neben ausgemachtem Kokolores und fragwürdigen „Heil“-Praktiken. Und eine Spezialität des Hauses: die Promotion für eine bestimmte ortsansässige Heilpraxis, die mit dem Begriff der „Synergie“ nur sehr unvollkommen beschrieben wird. 

Das Veranstaltungsverzeichnis selbst ist als pdf abrufbar http://www.erfurt.de/ef/de/leben/bildung/vhs/programm/ 

Zu beachten ist dabei, dass einige Themen, die anderenorts unter der Rubrik „Gesundheit“ geführt werden, hier an anderer Stelle auftauchen, insbesondere unter „Gesellschaft/Politik/Umwelt“. In der Reihenfolge des Verzeichnisses sind folgende Dinge ungut aufgefallen: 

Auf Seite 66 findet sich ein Kurs unter dem Titel „Übersensibel, Hypersensibel, Hochsensibel? Leben mit ausgeprägter Sensibilität“. An sich ein interessantes Thema, allerdings in verdächtiger Nähe zu dem Reizthema AD(H)S. Das Problem dieses Kurses wird deutlich, wenn die Dozentin näher betrachtet wird: Claudia Kühn befasst sich in der Tat mit der AD(H)S-Problematik, allerdings auf eine eher obskure Weise. Kühn hat keine Qualifikation in Psychiatrie, Psychotherapie oder auch nur Psychologie, geschweige denn in Neurologie. Sie ist oder war unter anderem evangelische Theologin, Grundschullehrerin, und, was schlimmer ist, sie ist heute vor allem anderen:

Kristallkind, Reisende, Vermittlerin von Heilung, Botschafterin, Organisatorin, Schreibende und Forschende, mein Eintrittstor auf die Erde war Lemurien, und die Energie von dort habe ich in jeder meiner Inkarnationen mit mir getragen. 

Wer’s nicht glaubt, kann sich auf ihrer Seite „energiebalance“ überzeugen: ein verstörendes Selbstzeugnis einer Hardcore-Esoterikerin, wo zur Behandlung von AD(H)S-Betroffenen so treffliche Dinge geboten werden wie Diätempfehlungen, Licht, Berührung, Energiearbeit, Prana. Und um die Sache abzurunden: „AD(H)S und Hochsensibilität können sich überschneiden“. Woher in diesem Kurs der Wind weht, kann man sich also an fünf Fingern abzählen. 

Weiter:

Auf den Seiten 74 und 75 feiert die hinlänglich bekannte NLP fröhliche Urständ, gelehrt von Sven-Uwe Büttner aus Suhl, den man auf einer eigenen Homepage  findet, mit einer Menge qualliger Versprechungen, wie sie selbst bei Wikipedia unter Scharlatanerieverdacht stehen.

Schon auf Seite 74 mit dem Thema „Ewige Liebe“ präsent, halten auf Seite 77 Wolfram und Katrin Teydte Hof zum Thema „Unsterblichkeit aus wissenschaftlicher Sicht“. Das könnte womöglich tatsächlich ein spannendes Thema sein – wären da nur nicht die Dozenten, die im Netz hier auftreten.

Die Geisterbahn findet man unter dem Button „Spirituelles“. Hier kann man sich energetisch selbst schützen oder sich gleich zum Heiler, Kartenleger oder Medium ausbilden lassen – mit praktischen Übungen! Jenseitskontakte durch Channeling, energetische Raumreinigung (Grundstücksreinigung geht auch, ist aber teurer), Hellsehen – alles wohlfeil bei Wolfram und Katrin. Die Einladung solcher Dozenten schafft in der VHS eine Spielwiese für Esoterik reinsten Wassers mit öffentlich-rechtlichem Segen.

 Ab Seite 162 geht es im „Gesundheits“-Ressort richtig los. Zunächst mit einem Kurs zur brachialen Massagemethode „Rolfing“, sodann hält ab Seite 163 die Homöopathie ihren unvermeidlichen Einzug, und mit ihr dieses seltsame Joint-Venture aus öffentlich finanzierter Volksbildung und Pseudomedizin, auf das eingangs schon hingewiesen wurde. Fünf Kurse in Homöopathie, zwei Kurse in „Gua Sha Fa“, das die Patienten in einem Zustand hinterlässt, als seien sie gerade einem SM-Studio entlaufen, jeweils erteilt durch Sabine Koch – Betreiberin einer Heilpraxis am Domplatz in Erfurt.

Von der Haltlosigkeit von Homöopathie und Ohrakupunktur abgesehen: kein übermäßig abgedrehtes Leistungsspektrum dort, aber ein besonderer hautgout ist bei der Sache eben doch: die Verlegung des Kursortes in die Heilpraxis – das ist etwa so, als veranstalte man einen Kurs in Verbraucherkunde in einer ALDI-Filiale mit dem Filialleiter als Dozent. 

Zwei Schüsslersalz-Kurse für Seele und Tiere runden das Kügelchen-Sortiment ab.

Ein weiteres U-Boot ist auf Seite 165/166 getaucht: es ist der Kurs mit dem ansprechenden Titel „Genusstraining“. Die im Programm enthaltenen Heilversprechen bei „Schmerzstörungen, Erschöpfungszuständen und Depressionen“ dürften jedenfalls seit dem Inkrafttreten der europäischen Health-Claims-Verordnung rechtlich schon im roten Bereich liegen. Welche Ideologie den Teilnehmer erwartet, zeigt ein Blick auf die Dozentin Jutta Merz: ebenfalls ohne erkennbare medizinische Qualifikation betreibt sie in Erfurt eine Praxis für „geistiges Heilen“, Quantenheilung, Reiki und energetische Behandlung.

 In Zusammenarbeit mit einem weiteren notorischen Esoteriker aus Erfurt, dem Heilpraktiker Martin Voltersen, unterrichtet sie im übrigen „Geistiges Heilen, Schamanisches Reiki, M.E.T, Clearing, PMR, Rückführungen, Honigmassagen“.

Au weia. 

Die Zusammenstellung fragwürdiger Kurse ist notwendig unvollständig, einige der genannten Dozenten tauchen auch an anderen Stellen nochmals auf. Das Auffinden problematischer Angebote ist, wie üblich, auch dadurch erschwert, dass die Übergänge zu sinnvollen allgemein-persönlichkeitsbildenden Angeboten fließend sind, insbesondere in dem schwammigen Bereich des „Coaching“. Alle Kurse, die dem Titel nach reine Yoga- und Entspannungstechniken sowie autogenes Training betreffen, wurden der Praktikabilität halber völlig unbeachtet gelassen. Wer möchte, mag in den Angeboten stöbern; es spricht viel dafür, dass da noch so mancher esoterische Schatz zu heben ist. Schon die Fundstücke in diesem Überblick werfen allerdings unangenehme Fragen auf:

  • Wie kann es sein, dass ein Kurs, der mitten in die AD(H)S-Problematik führt, von einer Dozentin geleitet wird, die sich selbst allen Ernstes als “Kristallkind” bezeichnet? Kennt niemand dort die haarsträubende Bedeutung dieses Begriffs und das dahinter stehende Schadenpotential?
  • Wie kann es sein, dass ein Thema wie “Unsterblichkeit” von seinem selbsternannten Channeling-Medium besetzt wird?
  • Wie kann eine VHS als Teil der Kommunalverwaltung Kurse anbieten, die ihrer Ausgestaltung nach als Promotionveranstaltung einer bestimmten Heilpraxis erscheinen?

Der Gegencheck: 

Anzahl der Kurse, die irgendwie dem Thema „Debunking“ oder kritischer Betrachtung alternativmedizinischer Lehren zugeordnet werden könnten: null. 

Schade. Gute Ansätze, aber auf der anderen Seite hat die VHS Erfurt ganz offensichtlich ein handfestes Qualitätssicherungs-Problem.


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