Eine Antwort lautet kurz und bündig: für Genmais soll das Vorsorgeprinzip gelten, für den Wolf nicht.
Das Vorsorgeprinzip ist, folgt man der Definition der Wikipedia, ein „wesentlicher Bestandteil der aktuellen Umweltpolitik und Gesundheitspolitik in Europa, nach dem Belastungen bzw. Schäden für die Umwelt bzw. die menschliche Gesundheit im Voraus (trotz unvollständiger Wissensbasis) vermieden oder weitestgehend verringert werden sollen“. Standard der aktuellen umweltpolitischen Diskussion ist dabei seit einigen Jahren sogar die Vermeidung „unbekannter Risiken“, einer extremen Interpretation des „Vorsorgeprinzips“.
Prinzip ist immer gut, wer lebt schon gerne ohne Grundsätze, und Vorsorge ist mindestens so positiv besetzt, wissen doch alle – zumindest die Älteren – noch aus der Zahnpasta-Reklame, dass Vorsorge besser ist als Bohren. Also meidet der aufrechte Bürger entschlossen die Risiken von Genmais, von denen niemand weiß, worin sie eigentlich bestehen, und zwar genau deshalb, weil niemand es weiß. Es könnte ja trotzdem irgendetwas sein.
Erstaunlicherweise verhält es sich ganz anders, wenn die Rede auf den sich vermehrt wieder in unseren Landschaften sich ansiedelnden Wolf kommt. Was soll da schon passieren,
heißt es, der Wolf ist doch ein scheues Tier, welche Vorsorge sollte da nötig sein? Nun ist ein Acker voller Maispflanzen mit dem Wolf nicht wirklich vergleichbar; nicht einmal Greenpeace empfiehlt, sich einem Maisfeld nur langsam, in aufrechter Haltung und laut redend zu nähern und notfalls einen Gegenstand nach den Pflanzen zu werfen. Aber wieso gilt das Vorsorgeprinzip nicht grundsätzlich auch bei der Frage der Wiederansiedlung von Wölfen?
Reden wir vom Wolf, dann reden wir nämlich durchaus nicht nur von unbekannten, sondern von wohlbekannten, nicht unerheblichen Risiken. Von dort, wo Menschen ihren Lebensraum mit ihm teilen müssen, hört man durchaus die eine oder andere bedenkliche Geschichte, und dort gibt es auch durchaus den einen oder anderen Schadensfall.
Alles weit weg, und kein Thema für deutsche Landen? Nein: dort, wo Wölfe eine neue Bleibe gefunden haben, zeigen sie sich auch in deutschen Landen mitunter gar nicht so menschenscheu, wie es die reine Lehre ihnen zuschreiben will. Nicht nur ein Radfahrer aus Tetendorf bei Soltau hat da unangenehme Erfahrungen sammeln müssen.
Füchse und Wildschweine haben bereits gezeigt, dass grundsätzlich scheue Wildtiere beträchtliches Talent als Zivilisationsfolger entwickeln können. Füchse, die am Stadtrand Müllbehälter plündern, sind inzwischen kein ganz seltener Anblick mehr, und der eine oder andere Schwarzkittel findet Vergnügen am Umpflügen von Vorgärten oder am Verwüsten von ebenerdig gelegenen Wohnzimmern. Spaßig ist das alles nicht – wie wäre es erst mit einem Rudel Wölfe vor der Veranda? Wölfe, die sich den Lebensraum in dicht besiedelten Gebieten mit Menschen teilen müssen und mit Gewöhnung reagieren, sind auch in deutschen Landen bereits beobachtet worden. Zum Beispiel hier, mit einem schönen Schnappschuss aus Rathenow vom Dezember 2016.
Und noch eines: mit dem Wolf wird die Tollwut zurückkehren. Wölfe haben riesige Reviere und nochmals größere Migrationsräume, und sie wandern zu einem großen Teil aus Gebieten ein, in denen die Tollwut noch endemisch ist – aus dem Baltikum und vom Balkan. Impfstrategien, die bei Füchsen erfolgreich waren, versagen beim Wolf, unter anderem deshalb, weil es keinen Plan gibt, wie Impfköder für Wölfe überhaupt aussehen sollten. Mit angegammelten Hühnerköpfen, die beim Fuchs erfolgreich waren, wird man da nichts ausrichten. Ob ein Wolf sich daran erinnert, wie scheu und ungefährlich er doch ist, wenn ihm erst einmal die Tollwut die Sinne vernebelt hat, ist keineswegs ausgemacht. Und selbst die erfolgreiche Eradizierung von Tollwut bei anderen Arten in unseren Wäldern und Fluren steht mit der Rückkehr des Wolfs auf dem Spiel – unter Füchsen, Dachsen und anderen, die mit einwandernden Wölfen ihre Reviere teilen müssen.
Allgemein gilt: dort, wo Menschen und Wölfe sich dieselben Territorien teilen müssen, herrscht alles andere als friedliche Koexistenz, und das ist nicht eine Folge von menschlichem Bejagungsdruck, sondern von wölfischen Übergriffen. Zum Beispiel so:
Nachdem ein völlig verängstigter Mann die Polizei alarmiert hatte, entdeckten Beamte in einem Hinterhof mehrere aggressive Wölfe. Als die Polizisten aus dem Auto stiegen, wurden sie von zwei Tieren angegriffen.
…oder so:
Die Männer tragen Kalaschnikows, als zögen sie in den Krieg. Aber ihre Feinde sind keine fremden Truppen. Im äußersten Südosten der Türkei begleiten sie bewaffnet Schulkinder, nachdem Wölfe von den Bergen bis in die Vororte der 70000-Einwohner-Stadt Yüksekova gekommen sind und sogar in der Provinzhauptstadt Hakkari Rudel gesichtet wurden.
…
15 Menschen wurden in Esentepe bei Yüksekova durch Wolfsbisse zum Teil schwer verletzt, darunter fünf Kinder.
Merkwürdig ist es, das Loblied des Wolfes bevorzugt aus dem Munde derer zu hören, die ansonsten das „Vorsorgeprinzip“ in seiner extremsten „Null-Toleranz“-Variante hochhalten und wegen „unbekannter Risiken“ jede Innovation bis zur letzten Patrone zu bekämpfen bereit sind! Man vergleiche nur dies:
Unbekannte Risiken von gv-Nahrungs- und Futtermitteln
Ob Nahrungsmittel, die gv-Pflanzenbestandteile enthalten, für Menschen schädlich sind, ist nicht erwiesen.
und das:
GRÜNE: Wölfe sind „Gewinn für die Umwelt“
Als „Gewinn für die Umwelt“ hat der naturschutzpolitische Sprecher der Landtagsgrünen Christian Meyer das heute (Montag) gemeldete Auftauchen von Wölfen im Solling gewertet. „Der Wolf gehört zu Niedersachsen wie Luchs, Biber und Seeadler.“
Dass selbst seine bündnisgrünen Amtsbrüder, z.B. Franz Untersteller in Baden-Württemberg, sich veranlasst sehen, über ihre Ministerien explizite Verhaltensmaßregeln für genau solche Szenarien herauszugeben, die hier geschildert wurden, könnte eigentlich ein Anlass dazu sein, die Vorstellung vom pflegeleichten Feld-, Wald- und Wiesengenossen Wolf einmal kritisch zu überdenken. Jedoch: geht es um den Wolf, gehört die Missachtung des Vorsorgeprinzips anscheinend zu den allfälligen Inkonsistenzen, die vor allem im grünen politischen Spektrum genussvoll gepflogen werden. Wie freilebende Wolfsrudel in unseren im Weltmaßstab immer noch ziemlich dicht besiedelten Regionen in Heide, Harz, Rhön, Taunus, Westerwald, Oden- und Schwarzwald mit einem „Vorsorgeprinzip“, das selbst unbekannten Risiken vorbeugen soll, unter einen Hut gebracht werden könnten, lässt sich nur sehr schwer nachvollziehen.
Ohne den Apologeten von Meister Isegrim zu nahe treten zu wollen: vielleicht gibt es ja doch gute Gründe dafür, dass in Streichelzoos keine Wölfe gehalten werden.