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Wissenschaft, Verschwörung und Demokratie

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Noch stehen wir ratlos der Vorstellungswelt gegenüber, die sich der freidrehende menschliche Intellekt schaffen kann, wenn er losgelöst von der Wirklichkeit und wider die simpelste Einsicht in die Natur der Dinge und der Menschen agiert. Der mächtigste Mann der Welt ist nebenbei Impfgegner, und zu seinen Kumpanen hat er beispielsweise

  • einen Klimawandel-“Skeptiker“ als Umweltminister (vorher bekannt als der erbittertste Feind des Umweltministeriums im Sold der Industrie),
  • einen Energieminister gleichen Zuschnitts (er hat gerade verboten, dass in den Texten seines Ministeriums Worte wie „Klimawandel“, „Emissionsreduktion“ oder „Pariser Abkommen“ erscheinen, hier),
  • eine Gegnerin der öffentlichen Schulbildung als Bildungsministerin (sie sagt, Waffen gehören in die Schulen, falls die Grizzlybären angreifen, hier),
  • einen Justizminister mit rassistischer Vorgeschichte (er hat Wahlhelfer der Schwarzen in Alabama verfolgen lassen),
  • einen menschenscheuen Außenminister (seine Unterstellten sind angewiesen, ihm nicht in die Augen zu schauen, hier),
  • usw.

Man könnte beinahe auf die Idee kommen, dass Wissenschaft nicht erwünscht ist. So streng sollte man sich jedoch nicht ausdrücken. Denn zumindest ihre Terminologie ist hochwillkommen; sozusagen die Bananenschale ohne Banane. Der Budget-Direktor Mulvaney hat gerade die Abschaffung von „Essen auf Rädern“ (Meals on Wheels) damit begründet, dass es dafür keine Evidenz gäbe. Es gibt nun aber wissenschaftliche Untersuchungen dazu (z B. hier), die den Nutzen belegen. Für Mulvaney bedeutet also das Wort „Evidenz“ nicht dasselbe, was es für den Rest der Welt bedeutet. Soeben hat der Kongress beschlossen, dass die Umweltagentur nur noch „öffentlich zugängliche“ und „reproduzierbare“ Daten verwerten dürfe – gleichzeitig aber wird der entsprechende Budgetposten nahezu eliminiert, so dass der Erwerb nichtzugänglicher Daten unmöglich wird (hier). Wie reproduziert man übrigens Daten, wie sie z. B. bei der Untersuchung von Hiroshima gewonnen worden sind? Gesundheitsminister Price hat jetzt eine drastische Reduktion der Forschungsgelder für Universitäten verkündet. Das gebiete die Achtung vor dem Steuerzahler, sagt er, hier (der Steuerzahler wünscht statt dessen Flugzeugträger und Atomwaffen).

Nur keine Unruhe: der Weg zur Wahrheit ist die Wissenschaft natürlich nicht. Die Wahrheit liegt in den Ansichten des Präsidenten. Das sagt der oberste Wissenschaftshüter des Kongresses, Lamar Smith. Wirklich, das hat er so gesagt, und Smith ist wirklich der Vorsitzende des Ausschusses für Wissenschaft und Technologie: „Der einzige Weg, die ungeschminkte Wahrheit zu erfahren, ist direkt vom Präsidenten“. (hier)

Fegen wir nun diesen Scherbenhaufen zusammen. Da alle Welt in Verschwörungstheorie macht, von abgedrehten Biologielehrern bis hin zu Staatssendern und Chefstrategen, wollen wir nicht zurückstehen und eine eigene auflegen. Wir wollen erklären, wie das alles kommt. Wie es kommt, dass die beinharten republikanischen Fanatiker des „Freedom-Caucus“ die Rücknahme von Obamacare verhindern und sich gegen den größeren, gerisseneren Teil der Republikaner durchsetzen können. Wie es kommt, dass sie nicht einmal den Zorn dieses Präsidenten fürchten müssen, der mit zwei Tweets seinen Mob losjagen kann. Wie es kommt, dass die einfachen, arbeitenden Menschen in Amerika derart krass gegen ihre eigenen Interessen wählen. Hier ist die Erklärung: sie sind von so brennender Stupidität, dass sie gegen Obamacare sind, weil sie ja nach dem Affordable Care Act versichert sind – und nicht gebacken bekommen, dass beides identisch ist (hier).

Die Superreichen haben beschlossen, dass sich der Wert des Menschen ausschließlich nach seinem Barvermögen bemisst. Robert Mercer, der Hauptsponsor Trumps, ein medienscheuer Milliardär, meint: eine Katze, die dem Menschen Freude schenkt, ist mehr wert als ein Sozialhilfeempfänger, welcher einen negativen Wert hat; und wenn einer tausendmal mehr verdient als ein Schullehrer, dann ist er auch tausendmal mehr wert. Das ist wirklich seine Ansicht, wir übertreiben nicht (hier). Ein durchschnittliches Kongressmitglied ist also 20mal mehr wert als ein durchschnittlicher Amerikaner (hier), und die 17 ersternannten Mitglieder der amerikanischen Regierung sind mehr wert als das ärmste Drittel der amerikanischen Bevölkerung (der Präsident selbst ist noch gar nicht mitgezählt, weil man sein Vermögen nicht kennt) (hier). Regierung und Kongress haben ein großes Ziel: ihren menschlichen Wert zu erhöhen. Und natürlich den ihrer Sponsoren, überflüssig zu erwähnen.

Aber warum sind die hart arbeitenden Kohlekumpel in den Appalachen so strunzdumm. Weil sie sie sich bei Breitbart „informieren“, wo ausgemalt wird, dass die Moslems und die Illegalen, die Chinesen und die Linksextremen (linksextrem bedeutet: alles, was nicht Breitbart ist), d. h. Obama, für alle Übel dieser Welt verantwortlich sind, vor allem für den niedrigen Stundenlohn. Die so „Informierten“ wählen eifrig den Vertreter des New Yorker Sumpfs, um es dem Washingtoner Sumpf mal so richtig heimzuzahlen. Und der Washingtoner Sumpf beschließt ununterbrochen Regelungen, die die Reichen reicher und die Armen ärmer machen. Wer bezahlt eigentlich Breitbart? Ein medienscheuer Milliardär namens Robert Mercer. Und so fügt sich alles glücklich: die Milliardärin Betsy deVos schafft die öffentlichen Schulen ab, und die Kinder bleiben dumm und können problemlos weiter Breitbart zuhören, wenn sie gerademal nicht erklärt bekommen, dass die Evolution „nur eine Theorie“ ist. Der öffentliche Rundfunk wird abgeschafft, denn die Sesamstraße ist entweder zu subversiv oder zu bildend, was letztlich auf das Gleiche hinausläuft. Und wenn sie groß sind, die Kinder, werden sie weiter die Sumpfdrainierer und die Freiheitsfraktion wählen. Hauptsache nicht Progressive, Marxisten, Linke, Schwarze Rassisten, von Soros bezahlte Schlafschafe, Scheiß-Liberale usw. usf. Und sie können unter rauchenden Schloten leben und in verpesteten Flüssen baden, wenn nicht gerade ein Sturm die Landschaft verwüstet, nein verwüstet ist sie ja schon durch die abgesprengten Bergkuppen. iPhones brauchen sie nicht, weil sie ja die Freiheit haben, eine Krankenversicherung zu kaufen (hier); sie könnten die iPhones sowieso nicht bezahlen, denn die sind ja 45% teurer, weil in China zusammengebaut. Die paar Millionen für Breitbart, Infowars und ähnliche Dreckschleudern werden tausendfach Rendite in Form von Steuersenkungen für die Reichen erwirtschaften. So einfach ist das, und so wird Amerika wieder groß.

Demokratie ist nutzlos, genau wie die Künste. Man kann sie nicht essen, sie sorgt nicht für niedrige Benzinpreise. Stattdessen können die Schwulen die Toilette ihrer Wahl benutzen. Wo kämen wir hin, wenn der Waffenkauf für schwer psychisch Kranke eingeschränkt würde, wenn es Netzbetreibern verboten würde, die Browser-Verläufe ihrer Kunden zu verscherbeln, usw. usf.

Aber das haben wir uns natürlich alles ausgedacht.

Nun im Ernst: Man kann anständig sein. Man kann klug sein. Man kann Republikaner sein. Aber nicht gleichzeitig. Eine Woche nach Amtsantritt des Präsidenten wendet sich Eliot Cohen, „der einflussreichste Neokonservative der Hochschullandschaft“ (WP), an die Konservativen:

Either you stand up for your principles and for what you know is decent behavior, or you go down, if not now, then years from now, as a coward or opportunist. Your reputation will never recover, nor should it. […] It will not get better.
Entweder Ihr steht für Eure Prinzipien ein und für das, was Ihr als Schicklichkeit kennt, oder Ihr werdet als Feiglinge oder Opportunisten untergehen; wenn nicht jetzt, dann Jahre später. Euer Ansehen wird sich niemals erholen, und das sollte es auch nicht. […] Es wird nicht besser werden.
theatlantic.com

Und es ist nicht besser geworden.

——-

Prolog

Der Journalist H. L. Mencken berichtete 1925 in einer Artikelserie vom „Affenprozess“ in der amerikanischen Provinzstadt Dayton, Tennessee. Dort war die Evolutionstheorie an den Schulen verboten worden, und ein Lehrer wurde verklagt, gegen dieses Verbot verstoßen zu haben. Der Prozess war mehr als eine Posse. Anwalt der Anklage war William Jennings Bryan, dreifacher Präsidentschaftskandidat und bibelfester Republikaner. Steve Bannon, Chefstratege des Weißen Hauses, bezeichnet Donald J. Trump als den größten Redner seit Bryan.

Mencken zeichnet von ihm das Bild eines üblen Schurken, auf Kriegsfuß mit allem, was die Kultur ausmacht, und schließt:

The job before democracy is to get rid of such canaille. If it fails, they will devour it.
Die Aufgabe, vor der die Demokratie steht, ist, solches Gesindel loszuwerden. Wenn sie das nicht schafft, wird sie von ihm vernichtet werden.
The Baltimore Evening Sun, July 27, 1925


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