Ende August veröffentlichte eine Gruppe von Wissenschaftlern, Medizinern und Journalisten das „Münsteraner Memorandum Heilpraktiker“ mit dem Ziel, die Politik zum Umdenken bei der Heilpraktiker-Zulassung zu bewegen (wir berichteten). Seitdem wird darüber viel diskutiert, gestritten, polemisiert, nicht selten mit heftigen persönlichen Angriffen.
Was ist da passiert? Ein kurzer Rückblick:
Zunächst wird im Memorandum der Status Quo des Heilpraktikergesetzes von 1939 erläutert:
Durch die staatliche Anerkennung von Heilpraktikern als „Heilkunde” Ausübende und durch die gesetzlich fixierte Berufsbezeichnung „Heilpraktiker” (vgl. Heilpraktikergesetz §1) wird Patienten suggeriert, es handle sich um staatlich geprüfte Heiler, die im Grunde äquivalent zu Ärzten ausgebildet seien und deren Kenntnisse sich zudem – anders als die vieler Ärzte – nicht auf ein oder zwei Fachgebiete beschränkten. Dies wäre jedoch ein klarer Fehlschluss: Medizinstudenten durchlaufen ein der Wissenschaftlichkeit verpflichtetes Studium, an dessen Ende eine staatliche Prüfung steht. Heilpraktiker haben demgegenüber nur eine einzige Prüfung zu bestehen, in der sie nachweisen müssen, dass sie sich bestimmter Grenzen ihres Kompetenzbereichs bewusst sind, etwa bei der Behandlung von Infektionskrankheiten. Darüber hinaus gibt es keine staatlich regulierte Ausbildung.
Weiterhin enthält das Memorandum eine kurze Beschreibung der Arzt-Ausbildung und stellt dieser die Voraussetzungen für den Erwerb der Heilpraktiker-Zulassung gegenüber.
Im weiteren Verlauf werden Bedenken geäußert, welche die Wahrnehmung und Stellung des Heilpraktikerwesens im Gesundheitssystem betreffen:
Gerade wegen der in Deutschland in nahezu allen Bereichen üblichen und erwartbar hohen Qualitätsstandards gehen Menschen hierzulande davon aus, dass solche Standards alle wichtigen Lebensbereiche regulieren – also auch die Gesundheitsversorgung durch Heilpraktiker. Umso größer ist die Gefährdung durch das unkontrollierte Feld des Heilpraktikerwesens.
Als Fazit werden zwei Lösungsvorschläge angeboten, um eine möglichst sichere Versorgung mit gesundheitsbezogenen Dienstleistungen zu erreichen: Einerseits die Streichung des Heilpraktiker-Berufes, alternativ eine Regulierung der Ausbildung und der Tätigkeitsbereiche, die den strengen Anforderungen in anderen Gesundheitsberufen entspricht.
Dass dieses Memorandum von vielen Heilpraktikern als persönlicher Angriff gewertet wird, ist nachvollziehbar, geht es doch in vielen Fällen um die Existenz, um den Verlust der Früchte jahrelanger harter Arbeit und nicht zuletzt um die Reputation als „so etwas ähnliches wie Arzt“.
Tatsächlich handelt es sich beim Münsteraner Memorandum um den Beginn eines Diskurses in Form einer Argumentation. Dies geschieht in mehreren Schritten:
- Einführung: Beschreibung der aktuellen Situation, Motivation des Memorandums
- Hintergründe: Gegenüberstellung Arzt – Heilpraktiker, Ausbildung, Tätigkeiten
- Bewertung: Analyse der Schadenspotentiale bei Anwendung von alternativmedizinischen Konzepten in Gesundheitsberufen, sowohl bei Heilpraktikern als auch bei Ärzten, Auswirkungen im Gesundheitssystem.
- Lösungswege: Vorschläge zur Verbesserung der akademischen Medizin, Sicherung von Ausbildungsstandards, notwendige Qualifikationen und daraus resultierende Befugnisse, abschließend zwei Vorschläge als Forderung an die Gesundheitspolitik: Qualifizierung der Heilpraktiker oder vollständige Abschaffung dieses Berufes.
- Zusammenfassung und Appell in Form von Empfehlungen für die Gesundheitspolitik
An keiner Stelle steht dort: „Wir halten alle Heilpraktiker für Stümper und Kurpfuscher, die uns die Patienten wegnehmen.“ Betrachtet man die Erwiderungen aus Heilpraktiker-Kreisen auf das Münsteraner Memorandum, scheint aber genau diese Botschaft, und nur diese, angekommen zu sein.
Ein politischer oder gesellschaftlicher Diskurs besteht aus dem Austausch von Argumenten, aus Rede und Gegenrede und im Idealfall aus einer gemeinsam erarbeiteten Lösung, die insgesamt für alle Beteiligten mehr Vor- als Nachteile bringt. Damit ist das Münsteraner Memorandum auch eine Aufforderung an die Heilpraktiker: „Hier sind unsere Argumente. Bitte zeigt uns Eure!“
Das Memorandum weist auf ein Problem hin, das mindestens seit 1939 besteht, analysiert selbiges und schlägt Lösungen vor. Die Betroffenen, also die Heilpraktiker, haben jetzt die Möglichkeit, ihre Gegenposition darzulegen, mithin also zu erläutern, warum ihr Beruf weder abgeschafft noch reformiert gehört oder welchen Kompromiss sie sich stattdessen vorstellen.
Das Muster für diese Gegenrede könnte folgendermaßen aussehen:
- Heilpraktiker sind unverzichtbar im Gesundheitssystem weil …
- Die derzeitige Ausbildungspraxis ist ausreichend, denn …
- Eine Abschaffung dieses Berufs hätte für die Allgemeinheit folgende Nachteile: …
- Die bestehenden Probleme können wir mit folgenden Maßnahmen beheben: …
- Ein Nebeneinander zweier unterschiedlicher Gesundheitssysteme hat folgende Vorteile für die Patienten: …
Gefragt ist also eine Argumentation, die plausibel ist, auf Tatsachen beruht und in der Sache zu einem Ergebnis führt oder eine Position beschreibt.
Als Leitfaden kann hier der Fünfsatz der Argumentation nach Hellmuth Geißner dienen:
- Anlass der Rede (Einleitung)
- Eigene Meinung zum Thema (Kerngedanken nennen)
- Begründung der eigenen Meinung (Beispiele, Vorschläge)
- Fazit, Konsequenz, Schlussfolgerungen (Lösungsvorschlag)
- Aufforderung zum Handeln (Appell, bezogen auf die Eingangssituation)
Schauen wir uns auszugsweise an, was stattdessen bisher an Erwiderungen aufgetaucht ist:
Der Präsident des Fachverbands Deutscher Heilpraktiker, Christian Wilms, vermutet in der Süddeutschen Zeitung, „es scheine in dem Memorandum ausschließlich darum zu gehen, unliebsame Konkurrenz loszuwerden und die erfolgreiche Arbeit der Kollegenschaft zu diskreditieren“.
Ein sachliches oder nachvollziehbares Argument findet sich hier nicht. Stattdessen sieht Herr Wilms eine Verschwörung der Ärzteschaft, die ausschließlich der eigenen Bereicherung dient.
Dr. Jörg Berchem, der seinen „offenen Brief“ mit „Heilpraktiker und freiberuflicher Leiter des Fortbildungsprogramms beim Berufs- und Fachverband Freie Heilpraktiker e.V.“ unterzeichnet und selbigen in mehreren Kommentarspalten veröffentlicht, reagiert mit einem erdoganesken Textschwall und erkennbar aufgebrachten Fragen:
„Wer hat Ihnen eigentlich ein Mandat erteilt? Wer hat Sie überhaupt zu Ihrer Meinung gefragt? Was qualifiziert Sie eigentlich überhaupt, zu diesem Thema Stellung zu beziehen? Wer gibt Ihnen das Recht, über das Schicksal eines anderen Berufes entscheiden zu wollen?“
und weiter:
„Worin sehen Sie eigentlich den von Ihnen implizierten Handlungsbedarf begründet außer in Ihren eigenen Vorurteilen?“
Andreas Schlecht, Leiter der Deutschen Heilpraktikerschule Konstanz, kommentiert ebenfalls sehr umfangreich, hat aber inhaltlich noch weniger zu bieten als Herr Berchem:
Cui bono? Wem hilft es? Oder wovon soll hier abgelenkt werden? Etwa von den zunehmenden ärztlichen Kunstfehlern? Trägt die mangelhafte Ausbildung der Mediziner in den letzten Jahren langsam Früchte? Früchte in Form von zahllosen Todesfällen hervorgerufen durch pharmazeutische Polypragmasie? Von Biochemie und Pharmazie versteht der heutige Arzt nicht viel. Muss er auch nicht, der Parmareferent [sic!] kommt ja alle zwei Wochen!
Schlechts rhetorische Stilmittel beschränken sich auf „Whataboutism“ (Ärzte machen auch Fehler), Anschuldigungen (ärztliche Behandlung schadet mehr als sie nutzt) und Unterstellungen (Ärzte und Pharmaindustrie fürchten um ihre Pfründe).
Seine Empfehlung lautet allen Ernstes:
„Sollte man vor diesem deskriptiven Hintergrund überhaupt noch zum Arzt gehen? Ehrlich gesagt, liegt die größte Chance der Patienten ein hohes und reifes Alter zu erreichen darin Ärzte und Krankenhäuser zu meiden und sich über Ernährung, pflanzliche und orthomolekulare Formen der natürlichen Medizin schlau zu machen. Ein Umstand den leider viele Patienten immer noch nicht verstehen ist; fast alle Medikamente sind giftig und nur konzipiert Symptome zu behandeln und nicht um irgend eine Krankheit zu heilen.“
Leider hat auch der Bund Deutscher Heilpraktiker e.V. keine überzeugenden Gegenargumente im Angebot. Auf dem Verbandsportal lässt sich BDH-Präsident Ulrich Sümper folgendermaßen zitieren:
„Wir wehren uns gegen diese einseitige Meinungsäußerung sogenannter Experten. Hier werden persönliche Ansichten als neutrale Wahrheiten verkauft. Wir sind erschüttert über die undifferenzierte Darstellung unseres Berufsstandes zu Lasten der Heilpraktiker und ihrer Patienten“.
Gleich zu Beginn der Replik wird versucht, die Verfasser des Münsteraner Memorandums zu diskreditieren, noch bevor auf deren Stellungnahme inhaltlich eingegangen wird.
Auch von den vielen anderen Heilpraktikerverbänden sowie dem Dachverband Deutscher Heilpraktikerverbände ist bisher keine sachliche, nachvollziehbare Gegenrede erschienen. Warum nicht? Es muss doch möglich sein, in klaren Worten darzulegen, warum es keine gute Idee ist, den Beruf des Heilpraktikers abschaffen zu wollen. Oder liegt genau hier das Problem? Gibt es einfach keine guten Argumente? Sind emotionale Reaktionen, Diskreditierungen und Beleidigungen die einzigen rhetorischen Stilmittel, die dem Heilpraktiker-Gewerbe zur Verfügung stehen?
Liebe Heilpraktiker, bitte versucht es doch wenigstens. Überzeugt uns, dass Ihr gebraucht werdet. Oder lasst es. Das ist auch in Ordnung.
Münsteraner Kreis: Münsteraner Memorandum Heilpraktiker
BMJV: Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz)
idw-online: Expertengruppe schlägt umfassende Reform des Heilpraktikerberufs vor
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