Der Anlass
Frau Doktor Dana Mahr, Medizinsoziologin in Genf, hat erneut ihre Einstellungen bzgl. der aktuellen Gender/Trans-Debatte bekannt gegeben (hier). Im Rahmen dessen erwähnt sie auch Frau Nüsslein-Volhard, die zuvor einige Dinge zurechtgerückt hatte (hier). Mahr schreibt:
Diese sehr eindeutige, sehr vereinfachende Sicht auf das menschliche Geschlecht sagt weniger über die Biologie des Menschen als über die wissenschaftliche Sozialisation von Frau Nüsslein-Volhard aus. Denn einerseits war ihre Hauptschaffensphase in den 1970er und 1980er Jahren (in der es das Feld der Systembiologie noch nicht gab), und andererseits fokussierte sich ihre Forschung auf Modellorganismen wie Zebrafische und Fruchtfliegen.
Die Nobelpreisträgerin hat die letzten 40+ Jahre ihrer Wissenschaft verpennt und hatte auch vorher schon keine Ahnung.
Aber es bleiben Unklarheiten. Als Begründer der „Systembiologie“ gelten Hodgkin und Huxley 1952. Und zuvor hatte Mahr (hier) Frau Marie-Luise Vollbrecht vorgeworfen, dass sie nicht über „gewisse Schleimarten oder Pilze gesprochen“ habe, „die in einem sehr generellen Sinn die Tendenz zur Zweigeschlechtlichkeit unterlaufen“ würden, was ein sicheres Zeichen der Transfeindlichkeit und des Rechtsextremismus gewesen sei. Es ist also nicht so, dass der Blick auf niedere Lebewesen zu verachten ist – es muss nur der richtige, nämlich der soziologische, sein.
Ein so krachendes Scheitern eines klassischen ad hominems (Sonderform des genetic fallacy, Abwehr von Sachargumenten mittels Hinweis auf ihre Herkunft) sieht man nicht häufig. Glückwunsch, Frau Mahr! Die Frage drängt sich auf, wie eine solch überragende Qualifikation erworben werden konnte, und das ist leicht zu prüfen. Eingangs des zitierten Texts wird herausgestellt, dass 2021 ihr Buch „The Knowledge of Experience. Exploring epistemic diversity in digital health, participatory medicine, and environmental research“ erschienen ist. Werfen wir einen Blick hinein. Da gibt es ein Kapitel ,,2.2 What Are Scientific Facts?“. Es handelt sich um eine mäandernde Plauderei, in der etwas Definitionsähnliches nicht zu finden ist, dafür aber der Hinweis darauf, dass wissenschaftliche Fakten ein „Amalgam von empirischen, methodischen, technologischen, sozialen, räumlichen und historischen Faktoren“ seien. Zur theoretischen „Begründung“ verweist sie ausführlich auf Ludwik Fleck, der in seinem Buch „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ 1935 erstmals auf die soziale Seite wissenschaftlicher Fakten hingewiesen habe.
Eine andere Façette des wissenschaftlichen Outputs von Dana Mahr hatten wir in unserem Forum berührt (hier, hier). Im folgenden soll es jedoch um das Buch von Ludwik Fleck gehen, zumal sich auch der bekannte Professor Harald Walach (Ritter der Homöopathie, Entdecker der schwachen Quantentheorie, Priester des Kozyrev-Spiegels, Corona-Zweifler usw. usf.) darauf beruft.
Teil 1 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
→ Teil 2
Editiert 24.09.2022. In der ursprünglichen Version wurde der akademische Grad von Dana Mahr und der Vornamen von Marie-Luise Vollbrecht falsch wiedergegeben. Peinlich. Wir bitten um Entschuldigung.