Wenn es um Literatur zum Impfen geht, ist wohl Martin Hirtes Buch “Impfen Pro & Kontra” eines der prominentesten Werke. Wir haben uns, obwohl das Buch schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat, mal die aktuelle Amazon-Vorschau angesehen. Das Buch liegt ja in der 17. Auflage überarbeitet und ergänzt vor. Der Vorteil ist, dass sich jeder die hier zitierten Passagen selbst durchlesen kann.
Die Einstellung
Zuerst fällt die Einstellung von Martin Hirte zu Krankheiten auf:
Untersuchungen, welche positiven Auswirkungen die eine oder andere Krankheit hat, deren Ausrottung auf dem Plan steht, fehlen völlig. Das Gefühl für den Sinn von Krankheiten ist verlorengegangen.
Akute Erkrankungen haben einen wichtigen Stellenwert in der Entwicklung des Immunsystems und wahrscheinlich auch der Persönlichkeit.
Krankheiten sind für ihn etwas Gutes und Wichtiges; Kinder brauchen es für ihre persönliche Entwicklung, wenn sie etwas leiden (und gelegentliches Sterben wird wohlwollend in Kauf genommen). Man darf den Krankheiten ja nicht ihren Sinn nehmen. Diese beiden Sätze drücken die Einstellung von Hirte zu Menschenleben sehr gut aus. In unserem Wiki finden sich weitere Beispiele solcher Aussagen.
Als Vater oder Mutter sollte man sich schon bei diesen Sätzen auf den ersten Seiten des Buches überlegen, ob man jemand mit einer solchen Einstellung wirklich sein Vertrauen schenken möchte.
Hirte versucht sich zwar den Anschein zu geben, “unparteiisch/neutral” zu sein, aber es lässt sich leicht zeigen, dass er das nicht ist. Um “Kontra” darzustellen, muss er sich darauf verlassen, dass der normale Leser seine Referenzen und Aussagen nicht nachprüft.
Ungeeignete Referenzen
Sehen wir uns gleich den nächsten Satz an, der Beweise für sein Weltbild liefern soll:
Es gibt Hinweise und wissenschaftliche Belege dafür, dass fieberhafte Erkrankungen, auch die typischen »Kinderkrankheiten«, einen gewissen Schutz vor Krebserkrankungen, allergischen Erkrankungen und Autoimmunkrankheiten vermitteln (Albonico 1998b, Alm 1999, Krone 2003, Glaser 2005, Montella 2006, Cramer 2010, Silverberg 2011).
Man muss Hirte gleich zum ersten “Wissenschaftler”, den er als Beleg benennt, gratulieren: der Aids-Leugner und Anthroposoph Albonico ist laut der Schweizer Ärztezeitung für konsistent unrichtige Informationen bekannt. Wenn man der menschenverachtenden Philosophie der Anthroposophie anhängt und HIV/AIDS als erfundene Krankheit bezeichnet, hat man jegliche Seriosität sofort verspielt.
Hirte zitiert dann den Anthroposopen Alm, um die Behauptung aufzustellen, dass Krankheiten wie die Masern Schutz vor allergischen Erkrankungen böten. Bei dieser Studie wurden 295 Kinder in Anthroposophen-Familien mit normal aufwachsenden Kindern verglichen und festgestellt, dass erstere seltener unter Atopie (allergische Reaktionen) litten.
Dabei zeigt die Studie insgesamt 15 Unterschiede im Lebensstil auf, die zwar auch die MMR-Impfung (Masern, Mumps, Röteln) und Antibiotika-Verwendung, aber auch die Dauer des Stillens, Ernährungsgewohnheiten, Vererbung und einiges mehr beinhalten. Impfungen sind dabei nur ein Punkt unter vielen und die Studienautoren konnten keine Ursache für den Unterschied bestimmen, aber die Studie findet “klar heraus”, dass der anthroposophische Lebensstil viel besser ist.
Das im Kontext wirklich Unseriöse ist jedoch Hirtes Vorgehen, diese ungeeignete Studie als Beleg zu zitieren. Selbst wenn man annimmt, dass die Studie völlig korrekt ist, geht das nicht daraus hervor.
Darüber hinaus unterschlägt er auch, dass an einer großen Studie 547.910 Menschen in Bezug auf Masern und Atopie betrachtet und genau das Gegenteil gefunden wurde: atopische Krankheiten traten bei Menschen mit Masern in allen Altersgruppen, bei Stadt- und Landbewohnern, häufiger auf.
Es ist vielleicht auch wichtig zu erwähnen, dass die Hypothese, durch Impfungen träten Allergien häufiger auf, natürlich in diversen Studien untersucht und nicht belegt werden konnte.
Interessant ist Krone 2003. Dort folgert man nämlich:
We conclude that both vaccinations as well as previous episodes of having a severe infectious disease induced the same protective mechanism with regards to the risk of melanoma.
Kurz gesagt: Sowohl Impfungen als auch schwere infektiöse Krankheiten schützen laut dieser Studie im gleichen Maß vor Melanomen. Was soll da, außer dass das Kind unter der Krankheit mehr leidet, der Wert der Krankheit sein?
Immerhin, diese Studie stützt wenigstens die Behauptungen ein klein bisschen und ist nicht völlig daneben.
Glaser 2005 ist eine durchaus interessante Studie. Warum Hirte sie zitiert, bleibt allerdings schleierhaft.
Wenn man das Epstein-Barr Virus in Tumorzellen beim Hodgkin-Lymphom nachweisen kann, dann haben Patienten unter 15 bessere Überlebenschancen, Patienten über 15 Jahren schlechtere.
Was Hirte aber egal oder unbekannt ist: das Epstein-Barr-Virus gehört (nicht nur) bei dieser Krebsform zu den Risikofaktoren und kann in etwa 50% der Patienten nachgewiesen werden. Das Epstein-Barr-Virus liefert also nicht “einen gewissen Schutz vor Krebserkrankungen“, sondern löst welche aus.
Man ist geneigt, Inkompetenz anzunehmen, denn mit Böswilligkeit lässt sich das nicht mehr erklären. Und es lassen sich definitiv passendere Studien finden, um Hirtes Standpunkt zu untermauern. Außerdem: Studienqualität ist ja ohnehin kein Kriterium, das für Hirte relevant ist.
Montella hat in einer Studie Hodgkin und Non-Hodgkin-Lymphome in Bezug auf Masern untersucht und gefunden, dass die Maserngruppe weniger Krebs hatte. Die Studie hat mehrere Probleme – unter anderem, dass sie sich auf die Erinnerungen über 60-jähriger verlässt, ob diese als Kinder die Masern hatten. Eine serotologische Untersuchung wurde nicht durchgeführt.
Andere Studien stellten übrigens das exakte Gegenteil fest: so wurden Masern-Antikörper in Krebsgewebe gefunden und der Verdacht geäußert, dass Masern das Risiko erhöhen. Der aktuelle Stand ist aber wohl, dass es keinen Zusammenhang zwischen Masern und Lymphomen gibt.
Cramer 2010 – von Hirte ebenfalls zitiert – ist, man muss fast sagen: endlich, eine geeignete, nicht unsinnige Referenz. Darin wird die Theorie aufgestellt, dass sich bei einer Mumps-Erkrankung Antikörper gegen MUC1 bilden, die einen gewissen Schutz vor Eierstockkrebs gewähren. Die Studie ist zur Zeit eine “Einzelaussage”, man kann noch nicht sagen, ob sich dieser Verdacht bestätigen wird. Cramer findet übrigens in einer anderen Studie, dass solche Antikörper auch bei Verhütungsmitteleinnahme, Knochenbrüchen, chirurgischen Eingriffen im Unterleib, Rauchen … auftreten.
Wäre man zynisch, könnte man sagen: Bekommen Sie Mumps, brechen Sie sich die Beine, lassen Sie sich operieren und fangen Sie an zu Rauchen. Wenn Sie das alles tun, sinkt Ihre Chance, an Eierstockkrebs zu erkranken. Vielleicht.
Man ist an dieser Stelle trotzdem fast verstört: in der 17. Auflage hat es Hirte tatsächlich geschafft, eine Referenz zu finden, die perfekt zu seinen Behauptungen passt.
Und dann gleich noch einmal mit Silverberg 2011, der aus Patientendaten folgert, dass Windpocken einen gewissen Schutz gegen Atopische Ekzeme bieten. Die Studie ist gut, aber klein und wird von Experten nur als Hinweis für weitere Forschung in diese Richtung gesehen.
Nur – selbst wenn man annimmt, dass die Studie absolut korrekt ist: Vor der Einführung der Impfung gab es in den USA ca. 105 Tote durch Windpocken (plus 40, bei denen die Windpocken beitrugen), in den Jahren 2002-2007 aber zusammen nur mehr 122 Todesfälle.
Harmlose Kinderkrankheiten
Damit kommt man zu der dunklen Seite der Medaille, die Hirte aber völlig egal ist: Dass Kinderkrankheiten eben nicht harmlos sind. Selbst bei den “superharmlosen” Windpocken starben in den USA jedes Jahr noch immer Dutzende Kleinkinder (abgesehen von anderen Komplikationen).
Das ist aber kein Vergleich zu den Masern.
Bei der letzten Epidemie in Frankreich mussten 40% der Säuglinge im ersten Lebensjahr und rund die Hälfte der Erwachsenen ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Bei 20% der Maserninfektionen kommt es zu Komplikationen wie Pneumonie. Die Häufigkeit einer Masernenzephalitis beträgt etwa 1–2 pro 1.000 gemeldete Maserninfektionen, davon verlaufen 25% letal, ein Drittel der Überlebenden erleidet bleibende schwere Folgeschäden.
Nach neuen Erkenntnissen kommt es bei Kindern, die während ihrer ersten fünf Lebensjahre eine Maserninfektion durchgemacht haben, bei 1:1700 bis 1:3300 zu SSPE, einer immer tödlich verlaufenden Krankheit, bei der es im Schnitt nach 8 Jahren zu Bewegungsstörungen, Demenz und Wachkoma kommt. Und danach der Tod. Ein grausliches Schicksal.
Aber solche Kleinigkeiten nehmen wir doch gerne in Kauf, damit unsere Kinder an der Krankheit wachsen können.
2 Millionen Krebsfälle durch Infektionskrankheiten
Inzwischen wurden etwa 20% aller Krebsarten mit Infektionskrankheiten in Zusammenhang gebracht, in einer Studie von 2008 wurde geschätzt, dass etwa 2 Millionen Krebsfälle pro Jahr durch Infektionskrankheiten verursacht werden.
Hirte tut sein Bestes, um Impfungen kontrovers darzustellen. Wo das fachlich gedeckt ist, zitiert er mit Freuden Probleme und Nebenwirkungen von Impfungen. Es wäre eine Lüge, würde man behaupten, dass Impfungen immer problemlos und ein reiner Segen sind. Impfungen sind Medikamente.
Wenn Sie ein beliebiges Medikament aus ihrem Schrank nehmen, werden Sie auf dem Beipackzettel eine lange Liste von Hinweisen, Nebenwirkungen und Verboten finden. Genauso ist es auch bei Impfungen.
Es ist immer notwendig, diese Nebenwirkungen gegen die Wirkung abzuwägen.
Bei der Pockenimpfung waren die Nebenwirkungen furchtbar. Ein bis zwei Menschen pro Million starben an der Impfung. Trotzdem hat man geimpft. Ihr Vorgänger, die Variolation, tötete fast 2% der Menschen, bei denen sie angewendet wurde. Und trotzdem wurde sie von Herrschern wie Katharina der Großen von Russland für eine segensreiche “Erfindung” gehalten. Weil eben nur 2% daran starben. Der Blutzoll der Pocken war weit höher.
Heute sind sie durch die Impfung ausgerottet; ein Schicksal, das man auch anderen Krankheiten wünscht. Die Pockenimpfung war trotz ihrer schlimmen Nebenwirkungen ein Segen.
Objektiv betrachtet überwiegt bei Impfungen klar das Pro. Damit es trotzdem kontrovers wird, muss Hirte – wie wir noch sehen werden – ein paar Probleme auf Seiten der Impfungen erfinden.
Verschwörungstheorien
Nach einem kurzen Ausflug ins Historische macht er sich daran, die Empfehlungen und die Ständige Impfkommission Deutschlands (bzw. die analogen Gremien in Österreich und Deutschland) nach Kräften zu diskreditieren.
Hirte versucht dabei auch alle, die Impfungen für gut befinden, ins Zwielicht zu rücken: Die Kinderärzte werden praktisch alle von den Pharmafirmen, der Stiko, den Ärztekammern mit Impfempfehlungen bombardiert und unter Druck gesetzt, sich nur ja nicht gegen Impfungen auszusprechen.
Impfungen seien eine individuelle, intuitive Entscheidung, die sich nicht rational erfassen lasse. Man beachte: Er versucht aus einer medizinischen Entscheidung eine Glaubensfrage zu machen, das Rationale auszublenden. Man soll selbst eine individuelle Impfentscheidung treffen und sich dabei möglichst nicht von Fakten leiten lassen.
Er spricht dabei von einem Angstniveau, das aufgebaut werde, um Impfungen durchzudrücken. Das erscheint fast absurd, denn Hirte versucht mit unbewiesenen und widerlegten Behauptungen selbst möglichst viel Angst vor Impfungen zu säen.
Dass sich in der STIKO keine Impfkritiker finden, erklärt er mit angeblichen Interessenskonflikten: die Mitglieder seien alle nicht unabhängig. Gleiches gilt natürlich für alle entsprechenden Kommissionen, in Österreich, in der Schweiz, einfach überall.
Hirte konstruiert hier eine weltweite Verschwörung, bei der einfach “alle” gegen das Wohl der Bürger arbeiteten. Nun, in seinem nächsten Buch kann er auch die Stiftung Warentest in diese Verschwörung aufnehmen, deren Empfehlungen decken sich nämlich fast vollständig mit denen der STIKO.
Dass rationale Überlegungen zu diesem Konsens führen, kommt ihm nicht in den Sinn; auf der Autobahn sind hunderte Geisterfahrer.
Wir wollen diesen Hickhack etwas überspringen und wieder zu konkreten Behauptungen weitergehen (zu sagen gäbe es allerdings genug).
Formaldehyd
Hirte schürt dann im Bereich “Totimpfstoffe” Angst vor Formaldehyd, das bei der Herstellung mancher Impfstoffe Verwendung findet und krebserregend sei.
Immerhin seien 0,005 bis 0,1 Milligramm pro Impfdosis enthalten. Schrecklich, nicht? Man fragt sich: Wie krebserregend muss dann erst unser Blut sein? Darin sind nämlich im Schnitt 2 bis 3 Milligramm Formaldehyd pro Liter enthalten.
Thiomersal
Danach springt er zu Thiomersal und zitiert gleich einmal die CDC 1999. Allerdings falsch, da das CDC feststellte, dass es keine Hinweise für ein konkretes Problem gebe. Man entschied damals einfach, absolut kein Risiko einzugehen, immerhin ging es um Kleinkinder.
Besonders ein Zusammenhang zu Autismus wurde gerne behauptet – eine Idee, die inzwischen durch viele Studien widerlegt wurde.
Und was macht Hirte in einem solchen Fall? Der wissenschaftliche Konsens wird natürlich ignoriert, stattdessen zitiert er Mark Geier zum Thema. Dem ehemaligen Arzt Geier, der auch als professioneller Zeuge arbeitete, wurde inzwischen in allen Bundesstaaten der USA die Approbation entzogen. Er hatte autistische Kinder gefährdet, da er sein Geld damit verdiente, ihre Eltern mit teuren und sinnlosen Behandlungen abzuzocken.
Geiers “Studien” sind nicht nur ein Fall für die Mülltonne, sie sind das allerletzte. Ben Goldacre z.B. schreibt, dass man Studien wie von Geier mit einem Warnhinweis versehen sollte …
Fazit: Man könnte noch einige Seiten mit Kritikpunkten füllen, da das Buch auch im Folgenden mit vielen Fehlern und absurden Behauptungen glänzt. Um “Kontra” darzustellen, muss Hirte den wissenschaftlichen Konsens ignorieren, Pseudowissenschaftler und Betrüger wie Geier zitieren und glänzt mit Falschaussagen die einem die Haare zu Berge stehen lassen.