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Wann ist ein Mensch tot?

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Im April diesen Jahres hatten wir den Blogartikel “Hirntod aus anthroposophischer Sicht” veröffentlicht. Es ergab sich eine z.T. irritierende Diskussion in den Kommentaren. Wir haben etwas geforscht und sind auf einen Artikel gestoßen, der diese Problematik, die uns letztlich alle angeht, mit der sich aber nicht jeder auskennt, sehr gut illustriert: Wann ist ein Mensch tot?

In dem Artikel geht es um eine Replik zu den Ansichten von Dr. Sabine Müller, welche, um es krass zu sagen, meint, dass die Definition des Todes über den Hirntod nur eine Erfindung sei, um an mehr Organe zu kommen.

Der Artikel ist von Dr. Matthias Mindach, der sich gegen solche Vorwürfe wehrt. Er hat uns dankenswerterweise eine Kurzfassung des Artikels zukommen lassen, der in Langfassung, mit allen Quellenangaben, zuerst in der Zeitschrift Aufklärung & Kritik (Nr. 1/2013) erschienen ist.
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In der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der wöchentlich erscheinenden Zeitschrift „Das Parlament“, welche vom Deutschen Bundestag herausgegeben wird, erschien in Ausgabe 20-21, 2011 ein Beitrag von Dr. phil. Dipl.-Phys. Sabine Müller „Wie tot sind Hirntote? Alte Frage – neue Antworten“. Die dort vertretenen Ansichten über den Hirntod, die in den letzten Jahren Furore gemacht haben (bis hin zu einer Sitzung des Deutschen Ethikrats im März 2012), berühren den Fachkollegen jedoch eigentümlich und sollen deshalb hier kommentiert werden.

Die folgenden Zitate sind sämtlich dieser Arbeit entnommen. Einleitend heißt es:

Vor der Erfindung der Herz-Lungen-Maschine im Jahr 1952 galt der irreversible Kreislaufstillstand als Kriterium des Todes.

Doch hier stockt der Leser schon. Die Herz-Lungen-Maschine ist ein Mittel zur Überbrückung des Kreislaufs bei Herzoperationen und hat mit der Problematik des Hirntods nichts zu tun. Gemeint ist wahrscheinlich die maschinelle Beatmung, die technisch und im Einsatzbereich etwas völlig anderes ist.

Nach einem Hirnstamminfarkt oder -trauma sind meist neben dem Atemzentrum auch weitere Funktionen des Hirnstamms betroffen, insbesondere solche, die für die Steuerung von Reflexen und absichtlichen Bewegungen notwendig sind.

Von einem Hirnstamminfarkt oder -trauma ist das Atemzentrum meist nicht direkt betroffen. Ein isolierter Ausfall des Atemzentrums, wie er hier als möglich darstellt wird, ist als Folge der erwähnten Erkrankungen kaum denkbar. Alle Muskeleigenreflexe und eine Reihe weiterer Reflexe laufen auch ohne jede Kontrolle des Hirnstamms ab.

Aber sofern unter anderem die Hirnrinde (Kortex) noch funktioniert, kann der Patient noch bei Bewusstsein sein; dieser Zustand wird als Locked-in-Syndrom bezeichnet. Wenn in diesem Zustand außerdem das Bewusstsein fehlt und dieses Fehlen als dauerhaft eingeschätzt wird, wird angenommen, dass der Patient hirntot ist.

Die regelhafte Abfolge ist umgekehrt: Der Prozess nimmt seinen Ausgang im Großhirn, dann wird infolge der Drucksteigerung im Schädelinneren das Mittelhirn und schließlich der Hirnstamm zerstört.

Beim Super-Locked-in-Syndrom ist auch die vertikale Augenbewegung nicht mehr möglich, so dass alle klinischen Merkmale der Bewusstlosigkeit vorliegen.

Die Fachliteratur der Welt kennt bisher etwa vier Fallberichte von Patienten, bei denen die Hirnstammfunktionen bis hin zu allen Augenbewegungen mindestens kurzzeitig ausgefallen waren, die Großhirnrinde aber intakt geblieben ist. Die Ursache war bei allen ein in der hinteren Schädelgrube lokalisierter Prozess. Hier ist der Einsatz von apparativer Diagnostik vorgeschrieben, die über das Großhirn Auskunft gibt. Die Fälle sind also keine Widerlegung, sondern eine Bestätigung des Hirntodkonzepts. Der hier zitierte Laureys verwendet den Begriff „Super-locked-in-Syndrom“ in der von Müller geschilderten strengen Bedeutung. Allerdings hat Müller versäumt, noch den folgenden Satz aus der erwähnten Arbeit hinzuzufügen: „in der Praxis ist nie ein solcher Fall beschrieben worden“. Diese Frage ist in aller Öffentlichkeit (mehrere Fernsehsendungen der BBC und ausführliche Kontroversen in Lancet und British Medical Journal) und in aller Schärfe durch führende Fachvertreter diskutiert worden. Die britische Auffassung ist bisher nicht durch Fakten widerlegt.

Die „neurologische“ Todesdefinition wurde 1968 vorgeschlagen … Als … Merkmale wurden festgelegt: (1) keine Rezeptivität und Reaktivität, (2) keine spontanen Bewegungen und Atmung, (3) keine Reflexe und (4) flaches Elektroenzephalogramm (EEG).

Spontane Bewegungen sind, ebenso wie spinale Reflexe, auch nach eingetretenem Hirntod noch möglich (Lazarus-Syndrom); es wäre also heute zu präzisieren: zerebral gesteuerte Bewegungen und Hirnstamm-Reflexe. Die Darlegung dieses ersten, tastenden Versuchs einer Problemklärung auf der Grundlage einer notwendig noch geringen klinischen Erfahrung verwundert, da die heutige, weiterentwickelte, Definition hier nicht referiert wird. Sie verwundert weniger, wenn später genau diese supravitalen Reaktionen gegen das Hirntodkonzept in Stellung gebracht werden.

Kritik am Hirntodkriterium

Da eine aktuelle Definition des Hirntodes von Müller nicht referiert wird, sei sie hier nachgeliefert: Der Hirntod ist der vollständige und irreversible Funktionsverlust des Gehirns. Er ist gleichbedeutend mit dem Individualtod des Menschen. Hirntodkriterien legen die Einzelheiten, die Umstände fest, unter denen von einem vollständigen, irreversiblen Funktionsverlust des Gehirns ausgegangen werden muss.

Kritiker der Gleichsetzung von Tod und Hirntod wie der Philosoph und Nobelpreisträger Hans Jonas

Hans Jonas hat keinen Nobelpreis erhalten,

halten am klassischen Todeskonzept fest. Sie plädieren dafür, den Komapatienten oder den Hirntoten im Zweifel so zu behandeln, als sei er noch auf der Seite des Lebens, da wir die exakte Grenze zwischen Leben und Tod nicht kennen, und der Mensch nicht von seinem Körper zu trennen oder im Gehirn zu lokalisieren sei.

Müller führt leider nicht an, auf welchen Bezug zur Realität sich Jonas stützt (selbst der Nobelpreis wäre dafür kein Ersatz). Auch wenn dieses oder jenes Detail der Hirntodbestimmung diskussionsfähig sein mag, ist es doch wohl unbestreitbar, dass es eine Grenze zwischen Leben und Tod gibt und dass sie prinzipiell erkennbar ist. Das Problem der nicht genauen zeitlichen Abgrenzbarkeit ist sowohl theoretisch als auch praktisch durch das Konzept der Schwebezeit (Zeit zwischen der ersten und der zweiten Hirntod-Untersuchung) gelöst.

Jonas warnt davor, das Hirntodkriterium in den Dienst der Organbeschaffung zu stellen. Der Therapieabbruch bei hirntoten Patienten sei nur dann gerechtfertigt, wenn er dem Interesse des Patienten selbst diene, aber nicht für fremdnützige Zwecke.

Man kann aber auch der Ansicht sein, dass es unethisch ist, den Leichnam um seiner selbst willen weiter zu beatmen, wenn sich das Gehirn zu einer übelriechenden Masse verflüssigt hat.

Auch Gehirnforscher und andere Wissenschaftler stellten fest, dass die Gleichsetzung von Hirntod und Tod aus physiologischer Sicht unhaltbar sei und veröffentlichten 1995 eine Erklärung für ein verfassungsgemäßes Transplantationsgesetz und gegen die Gleichsetzung hirntoter Patienten mit Leichen.

Die Erkenntnis der Naturwissenschaft, dass die Individualität des Menschen an ein funktionsfähiges Gehirn gebunden ist, dürfte weithin konsensfähig sein. Die Hirntodfestlegung wäre auch erforderlich, wenn es keine Organtransplantation gäbe. Der hier angeführte Roth meint, der Tod sei „wissenschaftlich definiert als das Erlöschen des Stoffwechsels im Körpergewebe“. Folgte man dieser Logik, dann würden die Menschen als transplantiertes Organ weiterleben. Auch das Problem der Unsterblichkeit wäre gelöst: Zellkulturen lassen sich praktisch beliebig lange am Leben erhalten.

Dagegen vertreten einige Bioethiker eine Kortextod-Definition, bei der sie zwischen der Person und dem Organismus unterscheiden. Dieser Ansicht nach gibt es zwei Arten von Tod: der Tod des Organismus, der mit dem Tod des Hirnstamms einsetzt, da dieser das integrierte Funktionieren des gesamten Organismus gewährleiste, sowie der Tod der Person, der mit dem Tod des Kortex einsetzt, da dieser Bewusstsein und mentale Aktivität hervorbringe. Individuen im dauerhaften Koma sollten als Organspender verwendet werden; da sie keine Personen mehr seien, sei ihre Tötung nicht verwerflicher als das Töten einer Pflanze.

Diese Kortextod-Definition wird hoffentlich den Elfenbeinturm akademischer Kreise nie verlassen. Dieselbe Quelle, die Müller für das „Super-locked-in-Syndrom“ anzieht, begründet ausführlich, warum das abwegig ist. Es ist sehr schwierig und mit heutigen Mitteln kaum je sicher möglich festzustellen, ob wirklich bei einem schwerstgeschädigten, aber offenkundig lebenden Patienten das letzte Fünkchen Bewusstsein für immer erloschen ist.

Einige künstlich beatmete Hirntote zeigen noch eine körperliche Integration: … Hirntote Kinder wachsen und können sogar ihre Geschlechtsentwicklung fortsetzen.

Shewmon berichtet von drei langzeit-„überlebenden“ Kindern, eines am Beatmungsgerät „sui generis gedeihend“. Dieser Fall wurde später von Repertinger et al. ausführlich dokumentiert. Der Hirntod war mit 4 Jahren eingetreten, der Kreislauf versagte mit 24 Jahren. Das Gehirn war bei der Obduktion mumifiziert, der Kopf mikrozephal, die sexuelle Reifung war nicht eingetreten, und seine Körpergröße war 104 cm. Damit liegt er genau auf der 50er-Perzentile für Vierjährige. Es fällt unserer Begrifflichkeit schwer, diese am Rande der menschlichen und medizinischen Erfahrung liegende Situation exakt zu fassen. Repertinger et al. verzichten auf metaphysische Interpretationen und sprechen nüchtern von „Hirntod mit lebendem Körper“.

Hirntote Schwangere können die Schwangerschaft über Monate aufrechterhalten und von gesunden Kindern entbunden werden … Durch die Fälle „chronischen Hirntods“ wird die Hypothese der engen kausalen und zeitlichen Relation von Hirntod und Tod des gesamten Organismus widerlegt.

Das Ausmaß der hierfür erforderlichen Interventionen geht natürlich weit über das bei Intensiv-Patienten Nötige hinaus, denn alle Regelkreise (mit der Körpertemperatur angefangen) müssen von extern stabilisiert werden, und es gelingt höchst selten, den Kreislauf für länger als eine Woche aufrecht zu erhalten. Das Gehirn kann prinzipiell nur auf zwei Wegen auf die Körperperipherie einwirken: über Nervenimpulse und über Hormonausschüttung. In dem Ausmaß, in dem die Regelkreise der Hormonausschüttung verstanden werden, können sie artifiziell gestützt werden. Die weltweit 175 Fälle des „Überlebens“ von mindestens einer Woche waren sehr variabel dokumentiert, und einige stammten aus der Tagespresse. Das Konzept des Hirntods als Individualtod des Menschen widerlegen sie nicht.

Laut deutschem Transplantationsgesetz (TPG) dürfen lebenswichtige Organe nur von Toten entnommen werden. Wie der Philosoph Ralf Stoecker bemerkt, ist die entscheidende Frage unbeantwortet geblieben, nämlich ob hirntote Menschen auch tatsächlich tot sind.

Es ist natürlich weiterhin möglich, die Antwort auf diese entscheidende Frage nicht zur Kenntnis zu nehmen. Der Tod ist kontextuell. Als der Mensch nichts als seine fünf Sinne hatte, war das Aufhören der Atmung das definitive Kriterium des Todes. Mit der Akzeptanz des Stethoskops wurde der Herzschlag das entscheidende Zeichen. Die Todesfestlegung durch neurologische Kriterien wurde erst mit der technologischen Entwicklung möglich und notwendig; der Terminus „Hirntod“ ist insofern unglücklich und verwirrend, als er für etwas anderes als den „eigentlichen“ Tod gehalten werden könnte.

Kaschiert worden sei dieser Umstand dadurch, dass die Bundesärztekammer die Deutungshoheit an sich gezogen und konstatiert habe, dass „mit dem Hirntod naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt“ sei.

Wer sollte stattdessen die Deutungshoheit an sich ziehen?

De facto gilt seitdem der Hirntod (definiert als Ausfall von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm) als Kriterium für eine legale Organentnahme. Die Methoden zur Diagnose dieser Ausfälle waren vom Gesetzgeber „dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft“ (Paragraf 3 TPG) anheimgestellt worden, der von der Bundesärztekammer festzustellen und in Richtlinien zur Feststellung des Todes umzusetzen war.

Also nicht nur de facto, sondern auch de jure. Die Bundesärztekammer ist legitimiert. Stoecker meint auch, man könne „darüber streiten, inwiefern ein funktionierendes Gehirn tatsächlich für ein personales Leben unabdingbar ist“, versteht darunter aber lediglich, dass der beatmete Hirntote dem Laien den Aspekt des Lebendigen biete.

Die von der Bundesärztekammer vorgeschriebene Diagnostik erfasst nur Teilbereiche des Gehirns: Bei Patienten, für die keine apparative Diagnostik vorgeschrieben ist, müssen nur Hirnstammfunktionen untersucht werden.

In allen Fällen, in denen es vernünftige Zweifel am Ausfall der Hirnrinde geben kann, ist eben die apparative Diagnostik vorgeschrieben, denn beim völligen Ausfall des Hirnstamms ist die Großhirnrinde der klinischen Untersuchung nicht zugänglich.

Die Funktionen des Kortex sowie des Klein- und Mittelhirns werden dabei nicht untersucht. Denn ein Koma ist kein hinreichendes Symptom zur Diagnose einer Schädigung des Kortex

Die kausale Verknüpfung mit „Denn“ unterstellt, dass die Untersuchung der Funktionen des Kortex aus Nachlässigkeit oder gar bewusst vermieden werde. In der übergroßen Mehrzahl der Fälle ergibt sich der Untergang des Großhirns zwangsläufig aus der Art der Schädigung, der präfinalen klinischen Verlaufsdiagnostik und aus der Bildgebung, die bereits vorher – nicht zum Zweck der Hirntoddiagnostik – durchgeführt worden ist. Die gemeinsame Endstrecke der Hirnschädigung ist die Drucksteigerung in den von der harten Hirnhaut unterteiltem Schädelkompartimenten. Übersteigt der Hirndruck den arteriellen Druck, dann kommt die Hirndurchblutung zum Erliegen. Davon sind auch Mittelhirn und Kleinhirn betroffen.

In Zweifelsfällen kann [Hervorhebung durch mich] zusätzlich apparative Diagnostik eingesetzt werden, beispielsweise wenn die Ursache der Gehirnschädigung nicht bekannt oder die klinische Untersuchung nicht vollständig möglich ist.

„Im Zweifelsfall muss [Hervorhebung durch mich] innerhalb der Hirntoddiagnostik ein zerebraler Zirkulationsstillstand nachgewiesen werden“, heißt es in den Richtlinien.

Die klinische und die apparative Hirntoddiagnostik führen häufig zu unterschiedlichen Ergebnissen; nach einer Studie der Universitätsklinik Newark sogar in elf Prozent der Fälle. Denn zum einen sind die Methoden unterschiedlich empfindlich, zum anderen können klinisch nur Hirnstammfunktionen erfasst werden, während einige apparative Diagnosemethoden das ganze Gehirn untersuchen können.

Wenn die Ergebnisse von klinischer und apparativer Untersuchung in jedem Fall deckungsgleich wären, dann wäre die apparative Untersuchung schlicht überflüssig (Wijdicks zieht übrigens aus entgegengesetzten Gründen den gleichen pragmatischen Schluss). Es ist kein Fall bekannt, in dem eine lege artis durchgeführte klinische Hirntoddiagnostik durch eine Rückkehr von Hirnfunktionen widerlegt worden wäre. Die klinische Hirntoddiagnostik zählt zu den sichersten Methoden, die die Medizin überhaupt bieten kann.

Die American Academy of Neurology hat 2010 der von ihr selbst 1995 vorgeschriebenen Hirntoddiagnostik eine fehlende wissenschaftliche Fundierung bescheinigt.

Diese Schlussfolgerung ist so in der Stellungnahme der American Academy of Neurology nicht enthalten und lässt sich aus ihr auch nicht ableiten. Wissenschaftlichkeit ist immer zeit- und kontextabhängig: wenn empirische Belege fehlen, dann muss nach Plausibilität und begründeten Hypothesen entschieden werden. Die Körperschaft zieht, im Gegensatz zu Frau Müller, auch keineswegs den Schluss, dass das Konzept des Hirntodes nicht valide wäre. Ob nun der Atemstillstandstest mit diesem oder mit jenem festgelegten Grenzwert für den Kohlendioxid-Partialdruck als positiv bewertet wird: die Prognose bleibt gleich verzweifelt. Die Frage ist nicht, ob der Patient überleben wird, sondern nur, ob der Tod schon eingetreten ist oder ob er in den nächsten Stunden bevorsteht. Die formale Überprüfung der Parameter wird also weiter schwierig bleiben. Die einzig angemessene Folgerung ist, dass es, wie im übrigen auch in der gesamten sonstigen Medizin, einen gewissen Spielraum für das klinische Urteil gibt. Dieser ist nicht mit einem Freibrief für Willkür gleichzusetzen. Allgemein gesprochen: die vollständige und absolute Wahrheit wird für uns immer unerreichbar sein, aber es gibt keinen Grund, nicht zu versuchen, sich ihr anzunähern.
Es gibt keine völlige internationale Übereinstimmung im Detail, weil es die wünschenswerte empirische Absicherung der Grenzwerte noch nicht in ausreichendem Maße gibt, aber es gibt ebenso keine Differenz im Grundsatz. Medizin findet nicht im luftleeren Raum statt; auch nichtmedizinische Umstände müssen bei der internationalen Konsensfindung zur Kenntnis genommen werden. So wurde in Israel das Hirntodprotokoll auf ultra-orthodoxen Druck hin aus religiösen Gründen verschärft.

Wie häufig Fehldiagnosen des Todes sind, ist unbekannt; sie werden selbstverständlich nicht in Fachzeitschriften publiziert.

Beiläufig und wie selbstverständlich wird hier eine ausgereifte Verschwörungstheorie präsentiert. Sie ist kontrafaktisch, wovon bereits die allerflüchtigste Recherche überzeugen kann. Es wurden und werden Fälle publiziert, die so interpretiert werden, und sie werden sorgfältig gesammelt.

Allerdings wurden einige Fälle von „Hirntod-Mimikry“ hochrangig publiziert. Deren Ursachen waren Pestizidvergiftung, eine Baclofen-Überdosis (Wirkstoff zur Muskelentspannung) beziehungsweise ein fulminantes Guillain-Barré-Syndrom (neurologische Erkrankung mit vollständiger Lähmung)….Die Autoren dieser Studien warnen vor Fehldiagnosen des Hirntodes in ähnlichen Fällen.

Hier sei kurz wiederholt: Es ist kein Fall bekannt, in dem eine lege artis durchgeführte klinische Hirntoddiagnostik durch eine Rückkehr von Hirnfunktionen widerlegt worden wäre. Menschen können irren. Wenn ein Lokführer ein Haltesignal überfährt, wird man nicht als Konsequenz aus dem Zugunglück die Signaleinrichtungen abbauen, sondern allenfalls überlegen, ob ihre Effektivität verbessert werden kann.

Im Folgenden geht es um philosophische und ethische Aspekte des Problems und um praktische Schlussfolgerungen. Zunächst werden von Müller die Aussagen des President’s Council on Bioethics von 2008 zusammenfassend dargelegt, und:

Der Rat räumt auch ein, dass die Behauptung, kurz nach dem Hirntod trete unweigerlich der Tod ein, kaum überprüft und sogar eine selbsterfüllende Prophezeiung sei: Patienten mit der Diagnose Hirntod würden entweder Organspender oder ihre künstliche Beatmung würde abgestellt.

In der Praxis wird das Problem dadurch gelöst, dass in den nicht ganz seltenen Fällen, in denen das Ergebnis der klinischen und/oder apparativen Diagnostik auch nur geringe Zweifel zulässt, weiter abgewartet wird. Der Einwand erweist sich als ein theoretischer, so wie die Überlegung, dass die uns umgebende Welt nicht wirklich sondern eingebildet ist, theoretisch bleibt. Die Vorstellung, der Sterbende würde von organexplantierenden Haien umschwärmt, hat mit der Realität nichts gemein. Das den Hirntod feststellende Ärzteteam ist nicht mit dem Explantationsteam identisch, beide sind organisatorisch völlig getrennt, und es gibt keine finanziellen Interessen bei der Hirntodbestimmung.

Die Entscheidung des Rates, an der Hirntoddefinition festzuhalten, wird kritisiert:

Der philosophische Kunstgriff einer Neudefinition des Lebens, die deutlich vom Lebensbegriff der Biologie abweicht (und nach der Embryonen nicht leben), ist ein Zugeständnis einerseits an das Tötungsverbot, andererseits an die Transplantationsmedizin. Dies drängt den Eindruck einer interessengeleiteten Ethik auf, die überdies das wissenschaftliche Prinzip der Falsifizierbarkeit missachtet.

Es gibt einen Unterschied zwischen einem Embryo und einem Hirntoten, so wie es einen Unterschied zwischen einem Süßwasserpolypen und einem Embryo gibt: es ist der der potentiellen Entwicklung. Auch ist kaum vorstellbar, dass es jemals eine andere als eine – in welcher Weise auch immer – interessengeleitete Ethik geben kann. Letzten Endes sind moralische Fragen immer Fragen der Übereinkunft; das Kriterium der Falsifizierbarkeit, des Messens an einem objektiven Maßstab, kann hier nicht greifen. An empirischer Überprüfung mangelt es übrigens nicht völlig: die „sexuell Reifenden“ oder Schwangeren sind trotz des relativen Erhalts ihrer körperlichen Integrität nicht wieder auferstanden.

Auch andere Bioethiker wie Seema Shah bezeichnen die Gleichsetzung von Tod und Hirntod als ,legale Fiktion‘: Es sei unwahrscheinlich, dass die heftige Kontroverse über die Todesbestimmung in der medizinischen und wissenschaftlichen Literatur lange geheim gehalten werden kann.

Auch das ist eine Verschwörungstheorie; nur dass sie nicht vereinbar ist mit der von Müller selbst favorisierten (s. o.).

Und schließlich:

Die Kluft zwischen Organnachfrage und -angebot sollte nicht durch ethisch fragwürdige Maßnahmen zur Erhöhung des Organangebots überbrückt werden, sondern vorrangig durch Maßnahmen zur Verringerung der Nachfrage wie Präventionsmaßnahmen gegen Übergewicht, Medikamentenmissbrauch, Alkoholismus, Drogenmissbrauch oder Hepatitis. Die Transplantationsmedizin wird vielleicht in einigen Jahren als Brückentechnologie betrachtet werden, die gebraucht wird, bis ethisch und medizinisch bessere Lösungen – wie vollimplantierbare Kunstherzen und Organe aus dem Labor – verfügbar sind.

Als praktisch Tätiger hat man es weniger mit dem großen Ganzen als mehr mit dem konkreten Einzelnen zu tun. Derartige Ausblicke werden den Dialyse-Patienten, ob normalgewichtig oder nicht (was hat das mit seinem Nierenversagen zu tun?), zutiefst befriedigen. Vergeltung für Sünden, Vertröstung auf zukünftige Generationen – sieht so die „nicht interessengeleitete“ Ethik aus?

Fazit

Wünschenswert ist eine metaphysische Sicherheit, aber sie ist nicht erreichbar. Was die Medizin bieten kann und bietet, ist eine klinische, menschenmögliche Sicherheit, die als Handlungsgrundlage taugt. Die von Müller entdeckte Widersprüchlichkeit in der Hirntodfestlegung erweist sich als nicht existent oder wird fehlgedeutet. Es gelingt ihr nicht, die Tatsachen in ihr Konzept zu integrieren. Die Voraussetzungen dafür waren, was die Sachkenntnis angeht, auch nicht günstig. Ihre Schlussfolgerungen streifen das Absurde.
Die These, die interessengeleitete Medizin handele wider besseres Wissen und definiere den Hirntod nach der Art von Winkeladvokaten, kann in der Fachwelt nur auf Ablehnung stoßen. Dies als arrogante Ausflucht zu abzutun, das wäre die eigentliche selbsterfüllende Prophezeiung, die nicht falsifizierbar ist. Im von Handystrahlung und Gen-Lebensmitteln bedrohten Publikum wird die Botschaft dagegen verstanden: „Früher hatten wir Angst, lebendig begraben zu werden, heute müssen wir Angst haben, lebendig ausgeschlachtet zu werden“, heißt es im Esoterik-Forum.


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