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Naturheilkunde – denn unfühlend ist die Natur

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Ein Leser schrieb uns über die Wirkung von “sanfter Medizin”, die er aus nächster Nähe miterlebte. Dem einen oder anderen mögen solche Erfahrungen bekannt vorkommen. Wir geben sie hier ungekürzt wieder.

„Wer heilt hat Recht“. Jeder von uns kennt diese Plattitüde, allzu oft hört man diesen Satz. Das ist in Ordnung, denn er ist wahr. Wenn der Nutzen einer Therapie nachgewiesen ist und die Risiken der Behandlung kleiner sind als erwartbare Folgen der Erkrankung, dann bildet er die Grundlage der evidenzbasierten Medizin. Darüber hinaus werden Therapien, sobald der Heilungserfolg ausbleibt, häufig weiterhin verteidigt. Zwar ist der Therapieerfolg nicht nachweisbar, allerdings gibt es auch keine Nebenwirkungen, wodurch die Anwendung bestimmter Mittel vermeintlich risikofrei propagiert werden kann. Dieses Credo ist nicht nur bei Anwendern sogenannter alternativer Medizin tief verwurzelt, auch im Volksmund schlägt es sich in Sprichwörtern nieder wie „Hilft’s nix, schad’ts nix“.

Im ersten Moment klingt das sehr plausibel. Wieso sollte eine völlig nebenwirkungsfreie Behandlungsform wie Hochpotenzen der Homöopathie nicht verwendet werden, schließlich demonstrieren selbst Kritiker gerne und häufig, dass die Einnahme großer Mengen dieser Mittel unschädlich ist? Vielmehr noch, wieso regen sich Skeptiker, „Schulmediziner“ und viele andere so auf, woher dieser „missionarische Eifer“, wenn es auf alternative, nachweislich unschädliche Behandlungskonzepte kommt? Es muss doch jedem freigestellt sein, „komplementär – ergänzend – zur „schulmedizinischen“ Therapie weitere Mittel auszuprobieren! So bestechend diese Logik wirkt, ihre Anwendung hat oftmals verheerende Auswirkungen, die gerne geleugnet oder totgeschwiegen werden. Im Zweifel ist immer der Patient schuld, er hätte anders agieren müssen und hat gutgemeinten Rat missverstanden.

Es war ein warmer, sonniger Julitag. Meine gute Freundin S. hatte unlängst eine große Prüfung hinter sich gebracht und kam gerade aus dem Urlaub zurück. Diverse Untersuchungen, die sie aufgrund geschwollener Lymphknoten in der rechten Achsel machen ließ, lagen einige Zeit zurück. Es standen noch weitere Kontrolltermine auf dem Programm, die plötzlich etwas umfassender ausfielen als ursprünglich erwartet. Das Ausmaß bereits auffällig, bekam sie nunmehr die Nachricht, am nächsten Tag bei Professor D. möglichst mit einer Begleitperson auf der onkologischen Ambulanz zu erscheinen. Die Nachricht war so schlecht, wie zu erwarten war: Triple negatives Mammakarzinom (invasiv, duktal), Metastasen in den Wächterlymphknoten. Wenngleich eine niederschmetternde Diagnose für eine 26-Jährige, so wurde doch die Hoffnung auf Heilung gemacht. Die Therapie wurde also auf Empfehlung der Onkologen aufgenommen. Neoadjuvante Chemo (Docetaxel, Epirubicin, Capecitabin), zusätzlich Bevacizumab (Angiogenesehemmer), nach sechs bis acht Zyklen eine Mastektomie (Entfernung der Brust). Begleitend wurden diverse Psychopharmaka verschrieben, um die extremen psychischen Belastungen lindern zu können (Diazepam, Trazodon, Alprazolam).

Die Chemotherapie war eine starke körperliche Belastung, immer nach Gabe der Infusionen war S. fünf Tage „wie von einer Dampfwalze überfahren“. Die restliche Zeit war erfreulich: gut gelaunt, schmerzfrei und relativ bei Kräften nutzten wir den Krankstand für Ausflüge, Restaurantbesuche, Spieleabende, gemeinsames Kochen und vieles mehr. Die nebenbei auf Empfehlung der Hausärztin und ihrer Gynäkologin, beides langjährige Freundinnen der Familie, eingenommenen „komplementärmedizinischen Präparate“ zur Linderung der Nebenwirkungen machten keinem von uns Sorgen. Ich war ruhiggestellt damit, die Ungefährlichkeit der Präparate zu überprüfen und meine grundsätzliche Ablehnung dieser Ansätze zu begründen.

Nachdem der Tumor sich in ersten Kontrollen etwas verkleinert hatte, gingen wir optimistisch ins neue Jahr und die anstehende Mastektomie. Der Gentest im Vorfeld brachte die überraschende Erkenntnis, dass S. nicht Trägerin eines der damals bekannten Brustkrebsmarker war (BRCA1 und BRCA2). Damit sollte es reichen, nur die betroffene Brust und nicht auch die gesunde zu entfernen. Die OP hinter sich und mit einem Monat Zeitabstand zur letzten Chemo, begannen die Haare wieder zu wachsen und die adjuvante Strahlentherapie stand an. Beim Ziehen der Fäden in der Ambulanz wurde lapidar gefragt, ob S. bereits einen Termin auf der Onko­‐Ambulanz hätte, zwecks Besprechung der weiteren Chemo. So wurde zwischen Tür und Angel die Information gegeben, dass die vorangegangene Chemo gar nicht funktioniert hatte und das biopsierte Tumorgewebe immer noch die gleiche hohe Aktivität wie davor aufwies.

Aus der Bahn geworfen, weil auf endgültige Gesundung eingestellt, ging es also in die Bestrahlung. Als ein Kontroll­‐CT weitere Metastasen zeigte, diesmal in der Lunge, wurde die Bestrahlung sofort abgebrochen, um eine Carboplatin­‐Chemo einzuleiten. Die Vielzahl an schlechten Nachrichten führte in eine handfeste Depression, zu Panikattacken und die Kräfte wurden weiter gemindert aufgrund akuten Schlafmangels. Etwas verwundert drängten wir alle S. dazu, einen Psychiater aufzusuchen, um ihre Medikation neu einzustellen, schließlich waren die verschriebenen Psychopharmaka, die sie pflichttreu einnahm (sie versicherte uns das jedenfalls), genau gegen die beschriebenen Symptome. In diesem Zeitraum, es war mittlerweile Februar, setzte sich ein Gedanke in S. fest, den wir viel später kennenlernen sollten und dessen vernichtende Wirkung für uns erst knapp vor ihrem Ableben identifizierbar war.

Ihr körperlicher Zustand verschlechterte sich erwartungsgemäß, wenngleich sie nach wie vor auf Heilung hoffte. Die Kräfte ließen nach, an einen Alltag wie vor wenigen Wochen noch war nicht mehr zu denken. Viel belastender als die nicht heilen wollende OP-Wunde wurden die psychischen Probleme. S. schlitterte von Panikattacken in Depressionen, in milde Lethargie und zurück. Wir fragten häufig und eindringlich, wieso Psychotherapie und Medikamente keine Erleichterung brachten, aber S. vertröstete uns und meinte, es ginge gut und sie nähme alles ordnungsgemäß. Die Tage zogen sich, das düstere Wetter und der lange Winter schlugen uns allen auf’s Gemüt und gute Nachrichten blieben weiterhin aus. Gegen Ostern schließlich erzählte S. einer Freundin, die der „Alternativmedizin“ eher unkritisch gegenüber steht, sie hätte bereits seit einiger Zeit alle Psychopharmaka zugunsten von Homöopathika abgesetzt. Die Psyche müsse stark genug sein, um damit alleine umgehen zu können, die Medikamente haben dokumentierte Nebenwirkungen und nicht zuletzt brächten die meisten ein gewisses Gewöhnungs­‐ und Suchtpotential mit sich. Entsetzt erzählte diese uns davon und es stellte sich heraus, dass S. uns allen (Mutter, gute Freunde) ohne mit der Wimper zu zucken ins Gesicht log. Sie litt und vegetierte einen Gutteil ihrer Zeit vor sich hin, weil „sanfte“ Methoden und Mittelchen, die ihre Hausärztin propagierte, natürlich wirkungslos blieben.

Der Schaden war bereits passiert. Der Gedanke, die Psychopharmaka seien schädlich, saß bereits tief. Homöopathie, die von Anfang an im Spiel war und von allen Seiten – vom behandelnden Onkologen bis zu skeptischen Freunden – toleriert wurde, schien legitimiert. In dieser schwierigen Zeit kämpfte S. also alleine ohne wirksame Therapie gegen ihre Gedanken, die immer größere Angst und Unsicherheit, die Verzweiflung, die immer merkbarere Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes. Bald darauf machten sich Knochenmetastasen bemerkbar, besonders im rechten Oberschenkel.

Bekannterweise gehen diese mit starken Schmerzen einher. Spätestens an dieser Stelle mussten Schritte zur Schmerztherapie eingeleitet werden. S.s Mobilität war merkbar eingeschränkt, selbst kurze Wege wurden zur Herausforderung. Sie drückte oft ihren Ärger darüber aus, dass sie nicht einmal einfache Wege in den Supermarkt selbst erledigen könne. All das begründete sie aber damit, dass es Nebenwirkungen der Chemo seien, die ihr Atem und Kraft raubten. Als wir nach ihrem Tod Aufzeichnungen fanden, waren wir alle zutiefst erschüttert und betroffen. Die Zeugnisse des unerträglichen Schmerzes, berührende und niederschmetternde Berichte über unfassbare Qualen, nahmen uns zutiefst mit. Von ihrer homöopatiefreundlichen, schulmedizinfeindlichen Hausärztin wurde eine angemessene Schmerztherapie abgelehnt. Metamizol sei schlecht für die ohnehin schon angegriffenen Knochen, die MRT-­Bilder würden falsch befundet und es ist eh nicht so schlimm, stärkere Schmerzmittel (Opioide) hätten zu viele Nebenwirkungen. Mit Akupunktur, Homöopathie, Ernährung und einem Energethiker lasse sich das ganze in den Griff kriegen. Wenngleich die Therapie des Onkologen wie geplant erfolgte, so wurde er genauso wie wir wesentlicher Informationen beraubt: kein Wort über den Schmerz, kein Wort über das Befinden. Aufgrund anhaltender Übelkeit und unerklärlichen Schwindels waren
Hirnmetastasen zu vermuten, S. lehnte aber ein Schädel­‐CT ab. Kontrastmittel würden ihren Körper schwächen, überhaupt seien Schwindel und Appetitlosigkeit eine Folge der Chemo. Die erneute Strahlentherapie, diesmal des Oberschenkels, um den Schmerz zu bekämpfen, wurde ablehnt, weil damit höchstens die Krebszellen zum Wachsen angeheizt würden. Wir hatten verloren.

Die Schmerzen begannen zu Ostern 2013. Schwindel und Übelkeit kamen im Juni hinzu. All das blieb untherapiert, weil S. sich allem entzog. Erst als wir die offensichtlichen Schmerzen in der onkologischen Tagesklinik bei Verabreichung wieder einer neuen Chemo ansprachen, kam unsere S. nicht aus und willigte nach einiger Erklärung der Ärzte ein, sich eine Metamizolinfusion verabreichen zu lassen. Wenig später spazierten wir gut gelaunt, bei bestem Sommerwetter und beschwerdefrei ins nächste Kaffeehaus. Wir scherzten, lachten, trieben uns herum und plötzlich hatten wir S. wieder zurück. Allein, die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. S. blieb dabei, dass sie grundsätzlich keine Schmerzmittel brauche. Mit Homöopathie und vitaminreichen Fruchtsäften, ein bisschen Joga und Akupunktur geht’s auch. Das viele Gift schwäche ihren Körper, der sich dringend von Chemo und all den anderen Medikamenten erholen müsse. Die
Übelkeit wurde schlimmer, S. hörte auf zu essen. In zahlreichen Gesprächen mit Spezialisten sollte geklärt werden, inwiefern sie ihren Nährstoffbedarf selbständig decken könnte. Aufgrund der fleischlosen Ernährung hatte sie schon lange Probleme, ausreichend Proteine zu sich zu nehmen. Milch schien ein möglicher Ausweg, flapsiger Kommentar der Hausärztin: „Die verschleimt doch. Und zuckerreiche Nahrung hilft dem Krebs beim Wachsen“.

Parenterale Ernährung zuhause wurde schließlich geplant, Schmerzmittel oder ein Schädel­‐CT waren immer noch außer Diskussion. Zwei Tage nachdem die künstliche Ernährung bestellt worden war, wurde S. schließlich ins Spital eingeliefert. Ihre Beschwerden waren so unerträglich, dass die überforderten Eltern die Rettung rufen mussten. Mit letzter Kraft gab S. dem Schmerzdienst zu verstehen, dass ihre Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn bei – unvorstellbar, hätte ich es nicht selbst gehört – vier lägen. Wenig später sollte ihr Zustand sich so weit verschlechtert haben, dass nach einem Schädel­‐CT eine Not­‐OP durchgeführt wurde, um einen kleinen Teil einer
Metastase zu entfernen, die schon geraume Zeit auf das Kleinhirn drückte und die Beschwerden auslöste. Nach einem zweitägigen Aufenthalt auf der Neurochirurgie, wo wenigstens grundlegende Schmerztherapie erfolgte und kurzfristig relative Beschwerdefreiheit erreicht wurde, konnte S. schließlich ein Zimmer auf der Palliativstation beziehen. Die angemessene Therapie, die sie dort erhielt, brachten ihr noch wenige Stunden, in denen sie nicht litt. Knapp sechs Tage nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus war sie für immer erlöst, ein Jahr und ein Monat nach der Diagnosestellung. Sie hatte ein halbes Jahr unaussprechliche, vermeidbare Qualen erduldet.

Mich packt heute noch Wut, das Gefühl der Machtlosigkeit und schrecklicher Schmerz, wenn ich mir vergegenwärtige, wie gutgemeinte „sanfte“ Medizin S. ihrer Lebensqualität beraubte. Ich bin traurig und erschüttert, dass uns – egoistisch gesprochen – unsere Zeit mit S. genommen wurde. Erklärt mir heute jemand, Homöopathie (und vieles mehr) sei nebenwirkungsfrei und unproblematisch, beginne ich nach wie vor zu schäumen.

Liebe wohlmeinende Menschen, bitte beraubt Eure Lieben nicht der Therapien, die sie benötigen. Kämpft für eine aufgeklärte, selbstbestimmte Therapiewahl eines jeden, aber lügt sie nicht an, verunsichert sie nicht mit falschen Informationen und missbraucht ihr Vertrauen nicht. Wer heilt, hat recht. Daher muss evidenzbasierte, im Idealfall wissenschaftsbasierte Medizin Herzensangelegenheit eines jeden sein.


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