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Cold Reading

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Unser Forist Gefährliche Bohnen hat kürzlich in einer Diskussion einem unserer “Kritiker” zu erklären versucht, wie Wahrsagen funktioniert. Wir fanden die Erklärung so einleuchtend, dass wir sie hier einem größeren Publikum vorstellen wollen.

Egal ob Wahrsagen, Hand- oder Fußlesen oder was auch immer man sich an Körperteilen, Planetenkonstellationen etc. für die Deutung von Schicksalen, Charakteren oder Diagnosen aussuchen will – im Grunde funktioniert das so:

Man braucht dafür nur etwas Übung, gute Menschenkenntnis und auch eine gewisse Portion Chuzpe.

The_Psychic_Phenomenon
Szene aus dem Film “The Psychic Phenomenon”, 1916.
Quelle: Wikimedia Commons, public domain

Man beginnt mit ganz schwammigen, allgemeingültigen Aussagen. Sie sollten auf möglichst viele Menschen zutreffen (“Sie sind mit ihrem Äußeren nicht völlig zufrieden, obwohl andere Ihre Makel kaum wahrnehmen”, “Sie fragen sich manchmal, was andere von Ihnen denken” etc.). Sie sind dabei allerdings umso wirkungsvoller, je mehr sie nach individuellen Aussagen klingen; da ist etwas Kreativität und wie gesagt Menschenkenntnis nötig. Zum Beispiel gibt es unglaublich viele Menschen, die insgeheim davon träumen, mal ein Buch zu schreiben, aber die meisten glauben, das wäre etwas Außergewöhnliches.
Außerdem sollten die Aussagen einem schmeicheln, das glaubt man immer am liebsten (“Sie sind intelligenter als die meisten Menschen”). Besonders geeignet sind auch Sowohl-als-auch-Aussagen (“Sie sind gerne unter Menschen, aber haben auch ganz gerne mal Ihre Ruhe.”).
Man legt sich also vorher so einen Vorrat an Allgemeinaussagen zurecht. Das nennt man Stock Reading (vgl.: Barnum-Effekt).
Während man relativ wahllos solche Sachen vom Stapel lässt, beobachtet man seinen Gegenüber gut. Wie alt ungefähr? Wie ist er/sie gekleidet? Gepflegt? Eher nachlässig? Modebewusst? Sportlich? Fallen besondere Merkmale auf? Wie ist die Haut? Blass? Gebräunt? etc. pp.
Außerdem – ganz wichtig – beobachtet man die Reaktion auf die Aussagen: Bei welcher hellt sich die Miene auf? Wo trifft man besonders gut? Mit etwas Übung kann man das ganz gut erkennen. Ein leichtes Stirnrunzeln bei dieser oder jener Aussage? Ok – falsche Richtung. Und so tastet man sich dann vor – was man trifft, baut man aus.
Dafür ist umfangreiches Wissen in Sachen Statistik sehr hilfreich. Die Lieblingslektüre professioneller Cold-Reader: Statistische Jahrbücher. Wann waren welche Vornamen am beliebtesten? Welches sind die häufigsten Krankheiten in welchen Altersgruppen? Und so weiter.
Bei alldem ist wichtig, möglichst selbstsicher aufzutreten, bloß nicht zu zögerlich. Man darf keine Angst haben, mal daneben zu liegen. In der Regel werden die Fehltritte kaum wahrgenommen – ein spektakulärer Treffer, und die sind wie weggeblasen.
Hinzu kommt, dass natürlich über die Fehltritte kaum berichtet wird. Das verzerrt das Bild enorm, und das ist der Grund, warum Aussagen à la “Du, der hat sofort gewusst, dass ich letztes Jahr Gallensteine hatte!!!” als Anekdoten nicht wirklich beeindruckend sind. Auch bei sonstigen Zaubertricks verlässt man sich tatsächlich häufig einfach auf statistische Wahrscheinlichkeiten. Das kann der doch gar nicht gewusst haben! – Hat er auch nicht, er hat schlicht und einfach geraten. Das geht bei genügend Versuchen natürlich auch mal schief, aber die Fehler bleiben halt nicht haften.

Es ist zweifellos ungemein faszinierend, dass das funktioniert und eine enorme Wirkung haben kann, aber als Erklärung braucht man dafür weder Magie noch irgendwelche ominösen Verbindungen zwischen Körperteilen und dem Kosmos oder sonstigen Erscheinungen im All, die seltsamerweise auch niemand näher charakterisieren kann.

Literatur-Tipp: Richard Wisemann: Paranormalität: Warum wir Dinge sehen, die es nicht gibt


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