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Harmlose Masern und Anthroposophie bei derstandard.at

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Der österreichische Standard ist, was die Medizinredaktion angeht, bei uns im Blog schon ein alter Bekannter. Im Mai des letzten Jahres hatten wir ihn und die österreichische Presseagentur für ihre Artikelserie zum Thema Parawissenschaften auch gelobt.

In diesem Jahr haben sie sich aber wieder ziemlich bekleckert, allerdings nicht mit Ruhm. So hatten sie im Jänner die glorreiche Idee, Pro & Kontra-Artikel zum Thema Impfungen zu bringen. Der Artikel Pro Impfen: “Die Impfskepsis der Ärzte ist ein Problem” ist in Ordnung, aber über den Kontra-Artikel In Europa kann heute auf Impfen verzichtet werden kann man sich nur ärgern.

Dann später, im Februar, wieder eine besonders skurrile Kombination aus Artikeln auf der Startseite:

Standard_Anthro

In den Artikeln Von roten Popos und hitzigen Diskussionen und Impfen ist eine Art von sozialer Verantwortung wird die Impfrate von Influenza und Masern beklagt.

Das Seltsame ist: dazwischen darf sich ein Anthroposoph austoben.

Zuallererst muss man den Standard darauf hinweisen, dass falsche Ausgewogenheit keine journalistische Tugend ist. Ein guter und ein dummer Artikel heben sich auch nicht gegenseitig auf. Hängen bleiben am Ende die dummen Artikel, die als Peinlichkeit bestehen bleiben.

Um beim Kontra-Interview zu beginne, so meint etwa der darin befragte Doktor Mitter:

Wir haben Beobachtungsdaten aus 2008, als es eine große Masernwelle aus der Schweiz gab, die von einer Waldorfschule ausgelöst wurde. Meines Wissens nach gab es damals keine relevanten Komplikationen. Man braucht sich nur die letzten Daten von tausenden Erkrankungen anschauen, um zu wissen, wie gefährlich die Masern sind – nämlich kaum. Bei wenigen Kindern kann es zu einer Gehirnhautentzündung kommen und die heilt meistens aus.

Ja, sicher. War ja alles ganz harmlos in der Schweiz. Seit Beginn der Epidemie 2006 nur:

* 4371 Masernfälle
* 1 tote Zwölfjährige
* 637 Komplikationen
* 334 Krankenhauseinweisungen
* 8 Gehirnentzündungen
* 173 Lungenentzündungen
* 207 Entzündungen des Gehörgangs.

Kein relevanten Komplikationen? Aha.

Man könnte zu dem Interview mit Dr. Mitter noch einige Worte verlieren, aber dieses Highlight zeigt wohl ausreichend, wes Geistes Kind der Mann ist.

Dass Waldorfschulen bei Masernepidemien beteiligt/betroffen sind, ist allerdings eher typisch.

Gratuliere, lieber Standard, grandiose Treffsicherheit bei der Auswahl dieses Kontra-Impfen-”Experten”.

Mit dem im Bild gezeigten Artikel Impfungen: “Man muss wissen, worauf man sich einlässt” hat man das Kunststück einer solchen Auswahl elegant nochmals wiederholt.

Sich einen Anthroposophen zum Thema Impfungen zu holen, ist praktisch ein Garant dafür, dass man fragwürdige Aussagen zu hören bekommt.

Man ist ja schon fast in Versuchung, einen Trollversuch zu vermuten. Es gibt beim Standard eine Rangliste der meistkommentierten Artikel des Jahres und solche ärgerlichen Artikel sind immer ganz gut im Rennen, mit 1.000 Kommentaren war man 2013 gemütlich unter den Top 10. Dieser hat es auf 1158 geschafft und damit im Februar schon mal gut vorgelegt.

In den Kommentaren wird dieser Artikel auch regelrecht zerfetzt:

Für Moravansky stellt sich die Frage: Warum ein drei Monate altes Kind gegen Diphterie und Polio impfen, “Krankheiten, die bei uns praktisch niemand mehr hat”?

An dieser Stelle fragt sich ein Leser: Meine Güte, so einer bekommt doch in der Tat einen Doktortitel?!?!

Zumindest die Frage des Anthroposophen lässt sich leicht beantworten: Damit die Krankheiten nicht wieder zurückkehren.

Als erstes Beispiel mag hier die Sowjetunion dienen. Nach dem Zusammenbruch sanken die Impfraten bei Diphterie, und der in Folge kam es zu einem Ausbruch mit insgesamt rund 150.000 Kranken und mehr als 4.000 Toten in den 1990ern. Erst mit internationaler Hilfe konnte der Ausbruch unter Kontrolle gebracht werden.

Oder Polio: In Syrien sanken die Impfraten, das Virus wurde aus Pakistan eingeschleppt und schon hatte man (mit Stand 17. Dezember 2013) wieder 24 Fälle von Kinderlähmung. Und wer glaubt, bei uns kann diese Krankheit nicht auftauchen, der sollte sich mit dem Konzept von Flughäfen vertraut machen.

Das Kernproblem des Interviews, ohne sich an Details aufzuhängen, ist aber die Philosophie die dahinter steht:

In der anthroposophischen Medizin wird auch Einflüssen aus dem Vorleben des Menschen eine Rolle zugesprochen: es existiert das esoterische Phänomen des Karma, gegen das laut Steiner selbstverständlich nicht geheilt werden könne. Daraus leitet sich ein typisch anthroposophisches Weltbild ab: Krankheiten sind unvermeidlich, man darf sie nicht verhindern. Es ist gut, wenn Kinder Krankheiten durchmachen, sie gehen daraus gestärkt hervor.

Oder um das Interview zu zitieren:

Wenn sich der Körper hingegen mit den Erkrankungen auseinandersetzen muss, wird das Immunsystem gestärkt, ..

Frei nach: “Was uns nicht umbringt, macht uns stärker”.

Ein paar Opfer, siehe oben bei Dr. Mitter, werden dabei wohlwollend in Kauf genommen. Und wenn man nach einer Mittelohrentzündung vielleicht taub wird? Keine Sorge, so etwas stärkt den Charakter! Neben der angeblichen Stärkung des Immunsystems wird durch das Durchmachen der Krankheit auch eine “Höherentwicklung” hervorgerufen.

Gilt sicher auch bei der Kinderlähmung – so eine kleine Verkrüppelung kann doch nur gut für die Entwicklung des Immunsystems und vor allem die geistige Einstellung sein.

Es ist ja schon peinlich, das solcher esoterischer Mist von Medizinern verbreitet wird, aber noch peinlicher ist, dass sich eine Zeitung wie Der Standard für die Verbreitung von solchem Mist hergibt. Aber es bringt sicher Klickzahlen …


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