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Die EMA approbiert ein Wunder, sagen die Wunderheiler

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Jetzt zugreifen! Im Dutzend billiger! (Bild geliehen von der Website "MMS - Healthy for Life")

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Oder, etwas genauer: die europäische Zulassungsbehörde für Arzneimittel EMA approbiere das Wunderheilmittel MMS (damit werden beispielsweise autistische Kinder gequält, die sich nicht wehren können.) – So jedenfalls wird in der Diskussion des „Spirit-of-Health“-Kongresses im Blog der GWUP verkündet:

Das Arzneimittel “Natriumchlorit” wird für das Anwendungsgebiet: Behandlung der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen. Dieses Arzneimittel wird unter der Nummer EU/3/13/1139 in das Gemeinschaftsregister für Arzneimittel für seltene Leiden eingetragen. Seit dem 09.07.2013.

Deshalb an alle: bitte informiert Euch richtig.

[Rechtschreibung behutsam heutigen Gebräuchen angepasst].

Täterätä. Dann versuchen wir das doch einfach mal, das mit dem „Richtig Informieren“; Natriumchlorit ist ein wesentlicher Bestandteil von MMS und möglicherweise synonym mit NP001, aber es ist uns nicht gelungen, letzteres zweifelsfrei festzustellen [siehe: 1].

ALS ist eine unheilbare Krankheit, die in 3-5 Jahren zum Tod führt. Viele Erkrankte in den USA gehen von einer Identität von Natriumchlorit mit NP001 aus und haben mit Selbstversuchen begonnen.

NP001 wurde, wie oben fast erwähnt, als Orphan Drug [2, 3], als Arzneimittel zur Behandlung seltener Erkrankungen, für die es bisher keine wirksame Therapie gibt, registriert.

Bei solchen Erkrankungen fällt es schwer, die für die Zulassungsstudien eigentlich erforderlichen hohen Patientenzahlen zu rekrutieren. Um die Forschung zu erleichtern, ist deshalb für diese Wirkstoffe in Europa (ähnlich in den USA) ein vereinfachtes, zentralisiertes Zulassungsverfahren vorgesehen. Die Voraussetzungen, die ein mögliches Medikament erfüllen muss, um in die „Orphan Drug List“ aufgenommen zu werden, sind: Die (potentielle) Indikation muss angegeben sein, der Wirkstoff muss einen Namen haben, es muss ein Sponsor angegeben werden.

Ein Wirksamkeitsnachweis wird ausdrücklich nicht gefordert; es muss lediglich eine gewisse Plausibilität diskutiert werden [4]. Schon in-vitro-Daten (d. h. Labor-Befunde) können ausreichen.

Die Anerkennung als „Orphan Drug“ ist keinesfalls gleichzusetzen mit einer Zulassung eines Arzneimittels zur Anwendung. Derzeit sind etwa 70 Orphan Drugs zugelassen [5], aber auf der „Liste der Orphan Drugs“ [6] stehen aktuell über 2200 Substanzen. Die meisten werden nie das Licht des Marktes erblicken.

Wie steht es nun hier mit der Plausibilität? Man findet die Angaben auf der Website des Sponsors [7]. Dort heißt es, 32 Patienten seien zur Feststellung der Verträglichkeit mit verschiedenen Dosen behandelt worden, und dabei sei eine „statistisch signifikante Verbesserung eines Biomarkers für ALS“ festgestellt worden.

Mehr Details erfährt man nicht, auch nicht, wo diese Ergebnisse veröffentlicht worden sind. (Es könnte sich um die bei ClinicalTrials.gov registrierte Studie NCT01091142 [8] handeln, von der Stand 29.04.14 noch keine Ergebnisse veröffentlicht waren.) Ebenso offen bleibt, um welchen Biomarker es sich gehandelt hat. Die EMA-Stellungnahme hält sich hier gleichermaßen bedeckt.

Über die Via Pubmed, die weltweit größte medizinische Datenautobahn, lässt sich jedoch feststellen, dass es noch eine weitere Studie gegeben hat. Sie wird zwar im Nationalen Studienregister der USA erwähnt, aber auch deren Ergebnisse sind bisher nicht veröffentlicht. Ein schwacher, ferner Reflex in der Fachpresse ist zu finden: ein Abstract erschien in einem Kongressband [9], und in der Öffentlichkeit wurde berichtet, kommentiert auch von unseren Kollegen bei Science Based Medicine.

Dem Abstract zufolge sei NP001 bei einer Untergruppe der Patienten erfolgreich gewesen, doch das Wort „signifikant“ kommt nicht vor. Referiert wird (vermutlich) diese Studie in [10]: die vorher festgelegten Endpunkte für die Wirksamkeit “erreichten keine statistische Signifikanz”.

Es spricht einiges dafür, dass es sich dabei um seriöse Forschung handelt. Festzuhalten bleibt aber: die Zulassung von Natriumchlorit für die Behandlung der seltenen Amyotrophen Lateralsklerose steht in den Sternen. Man findet gar die folgende Aussage [10]:

Heywood et al. analyzed a group of anecdotal reports from patients taking oral sodium chlorite (18). They compared the change in ALSFRS-R scores reported by 17 PALS on PatientsLikeMe taking oral sodium chlorite over 2.5 months to 85 matched historical controls. Patients on oral sodium chlorite appeared to progress faster than matched controls; the authors reported an 80% confidence that oral sodium chlorite was worsening ALS progression rate.

Unabhängig davon: selbst wenn NP001 seine Wirksamkeit in weiteren Studien beweisen könnte, ist das irrelevant für die Beurteilung von MMS. Sogar der Aderlass ist bei manchen medizinischen Indikationen sinnvoll, aber deswegen wird niemand auf die Idee kommen, damit Aids, Krebs und Malaria behandeln zu wollen.

Die Zulassung für andere Erkrankungen ist nicht näher als vor der Registrierung von Natriumchlorit bei der EMA. MMS bleibt gefährlicher Unsinn.


  1. Die Formulierung aus dem EMA-Papier “sodium chlorite (also known as NP001)” ist scheinbar eindeutig, aber die hier angegebene Strukturformel ist kein Natriumchlorit und kann auch kein Chlor freisetzen. David Gorski von SBM resümiert: “the best that I can figure out is that NP001 appears to be some form of sodium chlorite in a matrix designed to control its release, perhaps with another compound.” Verwirrung. Honni soit qui mal y pense.

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