Wie steht es eigentlich um die gesetzlichen Grundlagen für solche Exzesse der Irrationalität? Versuchen wir, uns zunächst an das Sozialgesetzbuch zu halten.
§ 12 SGB V – Wirtschaftlichkeitsgebot
(1) 1 Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. 2 Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.
Was ist notwendig? Das, was nachgewiesenermaßen wirksam ist, sollte man meinen. Wer prüft, ob der Nachweis dafür erbracht und somit eine Leistung von den Kassen zu übernehmen ist? Ein mächtiges, in der Öffentlichkeit aber eher selten thematisiertes Gremium: der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Abgesehen von seiner blamablen Entscheidung, die Akupunktur als Kassenleistung anzuerkennen, weil die Schein-Akupunktur doch so gut wirksam sei, ist dieses Gremium eigentlich nicht dafür bekannt, sich besonders für paramedizinische Verfahren zu erwärmen.
Juristische Windungen
Dennoch ist bei Stiftung Warentest zu lesen: „Doch jede Kasse darf Extraleistungen anbieten“ – aber wo steht das eigentlich? In welchem Gesetz, in welchem Paragraphen kann man diese Regelung finden, die sich ganz offensichtlich in einem schreienden Gegensatz zum Sozialgesetzbuch befindet? Solche „Extra-“ oder „Zusatzleistungen“ heißen offiziell eigentlich „Satzungsleistungen“. Das Bundesgesundheitsministerium sagt, dass eine Krankenkasse sog. Satzungsleistungen „zusätzlich zu den gesetzlich festgeschriebenen Leistungen gewähren“ könne, und das stehe im GKV-Versorgungsstrukturgesetz von 2012. Dort [1] findet sich zum einen der neue Passus, dass bei „regelmäßig tödlicher Erkrankung“ und „nicht ganz fern liegender Aussicht auf spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf“ die Kosten übernommen werden dürften, zum anderen – ebenso harmlos wie menschenfreundlich -, dass einige „Leistungen der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation“ bis hin zu „Leistungen von nicht zugelassenen Leistungserbringern“ (d. h. von jedermann) erstattungsfähig seien. Seffaständlich hätten die Krankenkassen „in ihren Satzungen hinreichende Anforderungen an die Qualität der Leistungserbringung zu regeln“ – man kann sich bildlich vorstellen, wie diese Bestimmung inzwischen mit Leben erfüllt worden ist. So wird gern betont, man bezahle nur diejenigen homöopathischen Behandlungen, die ein Arzt erbringe, der die Zusatzbezeichnung Homöopathie führe und Mitglied im DZVhÄ sei. Soll dies die Hinwendung von Ärzten zu witzlosen Fortbildungen fördern? Was wäre denn der Unterschied zwischen selbst angelesener Homöopathie und im DZVhÄ vermittelter Homöopathie?
Ein weiterer Aspekt sollte noch ergänzend berührt werden. Bevor die Krankenkassen die Kosten für Arzneimittel übernehmen können, müssen diese zunächst als solche zugelassen werden. Erfolgreiche anthroposophische Lobbytätigkeit in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat es zuwege gebracht, die „besonderen Therapierichtungen“ (Phytotherapie, Anthroposophie, Homöopathie) von dieser Überprüfung auszunehmen [2]. Auch die Homöopathen zehren noch heute ungefährdet davon. In der „Sachverständigenkommission D“ des BfArM, die mitunter tagt , werden solche Dinge besprochen wie:
Es wird über die Notwendigkeit einer eindeutigen Begriffsbestimmung mit Abgrenzung der Erstverschlimmerung gegenüber unerwünschten Arzneimittelwirkungen diskutiert.
Da wäre man doch gerne Mäuschen gewesen. Gemach, gemach: „In der nächsten Sitzung soll dieses Thema erneut aufgegriffen und ein Vertreter der Abteilung Pharmakovigilanz eingeladen werden.“ Das war am 10. April 2013; die nächste Sitzung sollte in einem Jahr stattgefunden haben. Verf. hofft, dass ein Beschluss noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wird.
Fazit
Die Legalität dieser halb- bis viertelseidenen Krankenkassenaktivitäten ist zweifelhaft, weil die Gesetzgebung inkonsistent ist – noch vor dem Wirtschaftlichkeitsgebot (§12) kommt der Freibrief für die Bezahlung der Wunderheiler zu Lasten aller Versicherten (§11). Wenn der G-BA bisher für die Erstattungsfähigkeit sein musste, genügt es nun, wenn er nur keine Gelegenheit hatte, dagegen zu sein (vom G-BA „nicht ausgeschlossene Leistungen“, sagt das Versorgungsstrukturgesetz). Und wo kein Kläger ist, da ist kein Richter. Alle sind zufrieden (bis auf die gierigen Ärzte, die die Marketing-Gelder der Kassen lieber selbst verbraten würden und die „nicht zugelassenen Leistungserbringer“ nicht an die Fleischtöpfe lassen wollen, hier). Das Ministerium ist jedenfalls unschuldig – nirgendwo steht ausdrücklich im Gesetz, dass die Kassen die Freiheit hätten, Unfug zu bezahlen. Herr Minister, gibt es nicht doch Handlungsbedarf?
Anhang. Kritische Stimmen:
- http://www.aerzteblatt.de/archiv/132862/Satzungsleistungen-der-Krankenkassen-Hauptsache-Wettbewerb?s=Versorgungsstrukturgesetz
- http://ratgebernewsblog2.wordpress.com/2014/01/30/bkk-vbu-und-homoopathie-wir-bieten-gerne-alternativen-in-der-medizinischen-versorgung-an/
- http://wahrsagercheck.wordpress.com/2014/02/04/krankenkassenvoodoo-und-voodookrankenkassen-eine-kleine-auswertung/
- ↑ Bundesgesetzblatt Teil I 2011 Nr. 70 vom 8.12.2011, zu erreichen via BGM-Link
- ↑ „Nicht zuletzt Kienles [Gerhard Kienle, „einer der wirksamsten und erfolgreichsten Anthroposophen nach dem Zweiten Weltkrieg“] wissenschaftlichen Gutachten und Argumenten war die methodenpluralistische Fassung des Arzneimittelgesetzes von 1976 zu verdanken, das den Herrschaftsanspruch der Hochschulmedizin relativierte, aber auch wesentliche weitere Entwicklungen (wie beispielsweise hinsichtlich der Approbationsordnung für Ärzte oder des Krankenpflegegesetzes) gingen auf seine Interventionen zurück.“
http://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=175