Kürzlich hat uns unser Agent Mark Twain einen Eindruck von den sanften, ganzheitlichen Heilmethoden der Traditionellen Westlichen Medizin verschafft. Da ist es nun an der Zeit, auch die uralte Weisheit der TCM ein wenig zu beleuchten. Wir entsenden dazu einen Missionar namens Dugald Christie, der in der ehemaligen mandschurischen Hauptstadt Mukden (heute Shenyang) Ende des 19. Jhd. ein Hospital aufbaut. Er berichtet über die dort übliche Diagnostik:
… Krankheit wird über den Puls diagnostiziert, von dem es ebenso fünf Arten gibt. Der linke zeigt den Zustand von Herz, Leber und Nieren an, der rechte den von Lunge und Magen sowie den des “Tors des Lebens”. Wenn ein Patient zum ersten Mal das Sprechzimmer betritt, erwartet er nicht, befragt zu werden.
Soviel zur ausführlichen Erhebung der Krankengeschichte in der Traditionellen Chinesischen Medizin.
Schweigend streckt er nacheinander beide Arme aus, und der Doktor soll durch Tasten der Pulse mit drei Fingern die Art und den Sitz der Krankheit erkennen. Anfangs brachte ein freundlicher einheimischer Doktor gewöhnlich Patienten mit, um zu sehen, wie ich sie untersuchen und behandeln würde. Eines Tages erschien ein Mann, der aufgrund einer Anomalie keinen Puls an der üblichen Stelle hatte. Ich bat meinen chinesischen Freund, diesen Kasus mit seiner Methode zu untersuchen, aber er war völlig konsterniert, überhaupt keinen Puls zu finden, und war interessiert und erstaunt ob meiner Erklärung.
(Mit den „Fünf Arten des Pulses“ sind natürlich nicht die klinisch verwertbaren tatsächlich tastbaren Änderungen des Pulses bei verschiedenen Erkrankungen gemeint, sondern mythologische Zuordnungen zu den 5 Elementen usw.).
Bis hierhin unnütz, wenn auch harmlos. Kommen wir aber zur Therapie:
Die Vorstellungen über die Lage und die Funktion der inneren Organe sind äußerst vage und ungenau, und die modernen chinesischen Ärzten räumen ein, dass sie überhaupt nichts von Chirurgie verstehen. Sie können keine Arterie abbinden, keinen Finger amputieren oder auch nur die einfachste Operation durchführen. Die einzige angewendete Methode, die chirurgisch genannt werden könnte, ist die Akupunktur, die bei allen Arten von Leiden angewendet wird. Die Nadeln haben neun verschiedene Formen und werden häufig glühend verwendet, und manchmal werden sie für Tage im Körper belassen. Da sie über kein praktisches Wissen über Anatomie verfügen, schieben die Ärzte häufig Nadeln in große Blutgefäße oder wichtige Organe, was mitunter unmittelbare Todesfälle zur Folge hatte. Ein kleines Kind, das ins Krankenrevier gebracht wurde, bot einen mitleiderregenden Anblick. Der Doktor hatte den Eltern mitgeteilt, dass ein Überschuss an Feuer im Körper sei, den herauszulassen er kalte Nadeln benötige. Dabei hatte er an mehreren Stellen tief in den Bauch eingestochen. Der arme kleine Leidende verstarb kurz danach. Bei Cholera werden die Arme genadelt. Bei einigen Kinderkrankheiten, besonders bei Krampfanfällen, werden die Nadeln unter die Fingernägel gestochen. Bei Augenkrankheiten werden sie oft im Rücken zwischen den Schultern bis in eine Tiefe von mehreren Zoll vorgeschoben. Es sind Patienten zu uns gekommen, deren Rücken aufgrund exzessiver derartiger Behandlungen mit nicht allzu sauberen Instrumenten großflächig verschorft waren.
Christie berichtet von weiteren traditionell chinesischen Methoden, das Los der Kranken zu verschlimmern, erwähnt die Krankheitstheorien des Volkes (unheilvolle Tage, böse Geister etc.) und fährt dann fort:
Ein gepflegt aussehender alter Mann brachte seine Tochter im Endstadium einer Lungenschwindsucht in die Sprechstunde. Sie war so schwach, dass sie sich kaum aus der Sänfte in den Untersuchungsraum begeben konnte. Als dem Vater die Art der Krankheit erläutert wurde, erwiderte er höflich aber bestimmt: „Sie irren sich. Das ist keine Krankheit der Lunge. Ich bin auch ein Arzt von nicht geringem Ruf, aber ich bin kein Chirurg. Ich habe meine Tochter zu Ihnen gebracht, weil ich von Ihren Fähigkeiten mit dem Skalpell gehört habe, damit sie das üble Ding entfernen, das meiner Tochter das Leben raubt.“ Dann erklärte er, dass seit vielen Monaten eine Schildkröte in ihrem Bauch wachse, die inzwischen groß wie eine Hand sei. Sie lebe vom Blut der Kranken und trinke es dreimal täglich. „Sehen Sie“, sagte er, „Sie können sie mit der Hand fühlen, wie sie sich gerade unter dem Herzen bewegt. Können Sie sie entfernen?“
Der arme alte Vater! Die “Schildkröte” war nichts als die pulsierende Aorta, die in dem ausgezehrten, dünnen Körper leicht zu tasten war.
Als Tuberkulosekranker durfte man unter gewissen Umständen also auf ein natürliches Ende hoffen. Bei neurologischen oder psychiatrischen Krankheiten standen die Chancen schlechter:
Geisteskrankheit, Epilepsie und schwere Hysterie werden üblicherweise als von teuflischer Besessenheit verursacht angesehen. Um den bösen Geist auszutreiben, wird ohne weitere Untersuchung der Ursachen zu den grausamsten Methoden gegriffen, wie den Patienten barfuß auf glühendes Eisen zu stellen, und stets wird hart und gnadenlos zugeschlagen. Zum Glück für die armen Leidenden kann man solche extreme Foltern nicht lange überstehen, und der Tod bringt Erlösung [meine Hervorhebung]. Ein siebzehnjähriges Mädchen wurde zu mir gebracht, offensichtlich ein Fall von schwerer Hysterie. Nachdem die Hexendoktoren erfolglos verschiedene grausame Methoden versucht hatten, stießen sie ihr endlich einen glühenden Schürhaken in den Schlund, um den Dämon auszutreiben. Das Mädchen starb kurz danach. Die elektrische Batterie wurde von den Chinesen als die ausländische Kur für die Besessenheit erkannt, und viele „böse Geister“ sind so gebannt worden.
Da vergeht einem der Spott. Die Medizin prähistorischer Zeiten kann nicht unmenschlicher gewesen sein als diese Traditional Chinese Medicine (TCM) am Ende des 19. Jahrhunderts.
Quelle: Thirty years in Moukden, 1883-1913: being the experiences and recollections of Dugald Christie / ed. by his wife. London: Constable, 1914.
https://archive.org/details/thirtyyearsinmo00chrigoog