Seit langem bemüht sich die Weltgesundheitsorganisation um die „Integration“ der mit Ehrfurcht und Respekt behandelten anderen Medizin. Bereits in der Deklaration von Alma-Ata von 1978 habe die WHO „dazu aufgerufen, die traditionelle Medizin in die Grundversorgung einzubeziehen“ [vgl. hier], wenn auch zunächst nur in einem Halbsatz: auch traditionelle Heiler sollten wenn nötig im „health team“ mitarbeiten. Später aber verhinderte erst die hartnäckige Obstruktion durch engstirnige, konventionelle Mediziner, dass eine Würdigung der Homöopathie durch die WHO beschlossen werden konnte. Seine königliche Hoheit der Prince of Wales etc. etc. war 2006 eingeladen, seine Vorstellungen zur „integrativen Medizin“ der Weltgesundheitsversammlung zu unterbreiten, was von der arroganten Medizinerzeitschrift Lancet als Beispiel für eine irrationale Entscheidungsfindung der WHO bedauert worden war [1]. Die Deklaration von Beijing von 2008 stellte einen weiteren Meilenstein auf dem Weg zu einer „integrativen Medizin“ dar.
Im Sommer 2014 beschloss die WHO ihre Richtlinie zur „Traditional Medicine Strategy (2014 – 2023)“ als eine „Anleitung für Regierungen, Planungsverantwortliche und Praktisch Tätige betreffend die Effektivität, Qualität, Verfügbarkeit, Bewahrung und Regulierung der traditionellen und komplementären Medizin“. Die ersten beiden Sätze des Vorworts von Margaret Chan, Generaldirektor der WHO, lauten:
Überall auf der Welt ist die traditionelle Medizin (TM) entweder die Hauptsäule des Gesundheitssystems oder fungiert als Ergänzung. In einigen Ländern wird die traditionelle oder nicht-konventionelle Medizin auch als Komplementärmedizin (complementary medicine, CM) bezeichnet.
Und sofort macht sich Verwirrung breit. Die traditionelle Medizin kann die Hauptsäule der Gesundheitsversorgung sein, aber wie kann etwas traditionell sein, das gleichzeitig unkonventionell ist? Warum kann etwas, das in dieser Weise unklar ist, gleichzeitig in anderen Ländern als ergänzend, als Gegenstück bezeichnet werden? Als Gegenstück zu was eigentlich? Die im Weiteren verwendete Abkürzung ist „TM and CM (T&CM)“, was ebenso dafür spricht, dass diese Begriffe vielleicht nicht synonym, aber doch nahe verwandt sind.
Hütchenspiel mit Definitionen
Gut, wenn sich Laien wie wir einem Fachtext nähern, dann sollten sie nicht verblüfft sein, dass sie nicht sofort alles verstehen. Möglicherweise hilft die Definition weiter, die in Kapitel 1 hervorgehoben zu finden ist.
TM: Traditionelle Medizin hat eine lange Geschichte. Sie ist die Gesamtsumme des Wissens, der Fähigkeiten und der Praktiken, die auf den Theorien, Glaubensvorstellung und Erfahrungen basieren, die – ob erklärlich oder nicht – in verschiedenen Kulturen bodenständig sind, die zur Erhaltung der Gesundheit sowie zur Prävention, Diagnostik, Linderung oder Behandlung körperlicher und psychischer Krankheiten eingesetzt werden.
Traditionelle Medizin ist also schlicht alles. Selbstverständlich hat auch die wissenschaftliche Medizin eine lange Geschichte (empirische Anweisungen finden sich schon in den ältesten ägyptischen Papyri, und der erste kontrollierte Therapieversuch wurde um die Mitte des 18. Jhd. unternommen), und sie beruht ebenso selbstverständlich auf den Theorien und Erfahrungen von einheimischen oder „anderen“ Kulturen, sie ist „erklärlich oder nicht“ (eher natürlich ersteres), und sie wird zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt (zu was sonst). Aus dieser Formulierung wird also zunächst nicht ersichtlich, wogegen die „Traditionelle Medizin (TM)“ abzugrenzen ist.
CM: Die Begriffe „komplementäre Medizin“ oder „alternative Medizin“ beziehen sich auf ein breites Spektrum von Praktiken der Gesundheitsfürsorge, die nicht Teil der Tradition oder der konventionellen Medizin des betreffenden Landes und nicht voll in das dominierende Gesundheitssystem integriert sind. In einigen Ländern werden sie synonym mit dem der traditionellen Medizin verwendet.
Die „komplementäre Medizin“ ist also diejenige traditionelle Medizin, die nicht Teil der Tradition des jeweiligen Landes ist – gut, dass das geklärt ist.
Sie ist „nicht voll integriert“ in das „dominierende Gesundheitssystem“ – wiederum eine Definition durch Abgrenzung von etwas, das rätselhaft bleibt. Die im Vorwort des Papiers ausgelöste Verwirrung wird durch die Inspektion der Definitionen nicht behoben, sondern verstärkt.
Was heißt „dominant“? Wenig später (S. 27) wird über Afrika berichtet, dass dort ein „traditioneller Heiler“ auf 500 Einwohner und ein Arzt auf 40.000 Einwohner komme und daher für Millionen Menschen in ländlichen Gebieten die medizinischen Versorgung von den einheimischen Heilern realisiert werde. In diesen Ländern wäre also die Traditionelle Medizin dominant, und die Medizin aus anderen (z. B. „westlichen“) Kulturen sollte in die magischen Praktiken integriert werden? Wie könnte man sich das konkret vorstellen? Es gibt erste Ansätze: die Homöopathen versuchen, sich in Afrika auszubreiten. Aber es bleibt doch unklar, was die eine indigene Methode der anderen voraus hat, und die Position der WHO in dieser Frage ist kontraproduktiv.
Worum geht es also?
Genug. Was in diesem Feuerwerk der Begrifflichkeit sorgfältig gemieden wird, das sind diejenigen Termini, die für Klarheit sorgen könnten. In Wirklichkeit geht es natürlich nicht um den Gegensatz zwischen „T&CM“ oder „CAM“ und „konventioneller Medizin“, sondern um den zwischen empirisch geprüften Maßnahmen und magischen Praktiken, zwischen evidenzbasierter Medizin und unkontrollierter aber lukrativer Spekulation, zwischen Wissenschaft und Glauben. Die wissenschaftliche Medizin ist aus dieser „traditionellen Medizin“ erwachsen, wie die Astronomie aus der Astrologie oder die Chemie aus der Alchemie. Es gibt lehrreiche Beispiele für die „Integration“ solcher Methoden. In einer Rede am 26. Juni 1965 in Peking erklärte der Große Vorsitzende Mao [zit. n. Frühauf, hier]:
Die medizinische Ausbildung muss reformiert werden – es ist völlig unnötig, so viel zu studieren. Wie viele Jahre formeller Ausbildung hatte Hua Tuo schließlich? Und wie viele Li Shizen? Es ist nicht erforderlich, die medizinische Ausbildung auf Menschen mit Hochschulreife zu begrenzen; Mittelschüler und Grundschüler mit drei Jahren Studium reichen aus. Das wirkliche Lernen wird in der Praxis stattfinden. […] Studieren ist für einen Arzt ein dummes Unterfangen.
Details mögen sich geändert haben, aber das Ziel wurde seither nicht mehr aus den Augen verloren. Passend fordert der Ethnopharmakologe, man möge doch nicht zu viel Wert auf die konventionellen [d. i.: wissenschaftlich geprüften] Arzneimittel legen [2].
Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung
Aber zurück zur aktuellen WHO-Agenda. Im Vorwort der Generaldirektorin heißt es weiter:
TM mit erwiesener Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit trägt dazu bei, das Ziel einer Gesundheitsversorgung für alle Menschen zu erreichen.
Ist dies die Beschreibung des Ist-Zustandes oder ist dies ein Programm? Als Programm ist es die Quadratur des Kreises: wenn es im Einzelfall gelingt, die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit von Praktiken der „traditionellen Medizin“ zu belegen, dann geht dieses Verfahren in den Kanon der wissenschaftlichen Medizin über, so wie die Mehrzahl der einst aus Pflanzen gewonnenen Wirkstoffe.
Aber so schlimm wird es nicht werden. Diesem Aspekt der „T&CM“ widmet das siebzigseitige Papier der WHO lediglich einen einzigen Satz (S. 39), in dem es noch dazu heißt, dass kontrollierte Untersuchungen ja nun nicht das Alleinseligmachende wären:
Gewiss sind kontrollierte klinische Studien aussagefähig, aber andere Evaluationsmethoden sind ebenfalls wertvoll.
Das ist eine Aussage, die so recht nach dem Geschmack von Frau Professor Witt oder Frau Barbara Steffens sein dürfte; wer denkt da nicht sofort an die „Versorgungsforschung“ für Homöopathie oder an die zirkuläre Evaluation des Herrn Professor Walach. Deutlich mehr Aufmerksamkeit zollt die WHO dagegen dem Problem, wie das geistige Eigentum der indigenen Völker an ihrer jeweils besonderen Spielart des Schamanentums geschützt werden könne.
Kennzeichnend auch, welche Beispiele die WHO für gelungene „Integrationsleistungen“ anführt.
In den unwegsamen Bergen und Wüsten der Mongolei haben es die nomadischen Hirten oft schwer, ein regionales Krankenhaus zu erreichen. 2004 wurde ein Projekt begonnen, das einen Satz ausgewählter traditioneller Hausmittel für 150.000 Einwohner bereitstellt. Eine Auswertung ergab, dass 74% der Antwortenden meinten, die Auswahl sei unkompliziert anzuwenden, und dass die Medizin wirke, wenn sie nach Anleitung angewendet wurde. Die verwendeten Inhaltsstoffe kosten etwa 8 US-Dollar pro Familie und Jahr.
Im „Mongolia workshop report“ wird das Projekt ausführlich vorgestellt [3], und man erfährt auch, welche Mittel genau ganze Familien für acht Dollar pro Jahr gesundheitlich über Wasser gehalten haben (nicht nur das: unerwarteter Weise konnte auch das liebe Vieh damit kuriert werden). Es waren Sorool-4-Extrakt oder der Norov-7-Absud oder das Shijed-6-Pulver [4]; Pflanzliches gegen Bauchschmerzen oder Fieber oder gynäkologische Erkrankungen.
Es bleibt abzuwarten, ob die Gesundheitsbehörden anderer Länder an einen Import der verwendeten Mittel denken. Solcherart Reserviertheiten werden von der WHO natürlich vorhergesehen, weshalb auch auf andere Beispiele für gelungene Integration verwiesen wird. Für Europa wird beispielsweise der „HTA Report“ zur Homöopathie von Bornhöft und Matthiessen angeführt, der sich bei näherer Betrachtung als ein Paradebeispiel für wissenschaftliches Fehlverhalten entpuppt. Aber Wissenschaft, in diesem Fall die kritische Sichtung der eigenen Quellen, ist ja schließlich nur eine kulturimperialistische Ideologie, die daran hindert, „die richtige Heilung vom richtigen Heiler zur rechten Zeit“ (Margaret Chan) zu gewährleisten, nicht wahr?
Was ist „T&CM“ nun wirklich?
Die propagierten Definitionen erweisen sich als vollkommen unangemessen und vernebelnd, aber – um das Gebiet des gesicherten Wissens ein wenig zu verlassen -: das macht sie nutzbar für die Agenda der WHO. Ein nach heutigen Maßstäben funktionierendes Gesundheitswesen hat sich in vielen Regionen als nicht finanzierbar herausgestellt. Damit das aber auf‘s Auge nicht so schlimm wirkt, wird das, was ohnehin schon da ist, als heilsam und förderungswürdig propagiert. Es mag ein paar klarblickende Zyniker in der WHO geben, aber einigen Vertretern in der Weltgesundheitsversammlung wird eine illusionäre Strategie recht sein, die einerseits dem jeweiligen Nationalstolz, andererseits den real begrenzten Möglichkeiten entgegenkommt. In Indien, wo 8% der Müttersterblichkeit durch Abtreibung verursacht sind, ist vorgesehen, staatlich anerkannte Ayurveda- Siddha- Unani- und Homöopathie-Heiler mit Abtreibungen zu betrauen (s. hier). Gleichzeitig hat man 16 Mio $ übrig, die Genetik der ayurvedischen prakriti (Körpertypen) zu erforschen. Praktischerweise werden die Ergebnisse gleich in den Journalen veröffentlicht, bei denen die Forscher die Herausgeber sind, was den Peer-Review-Prozess sicherlich vereinfacht (hier).
Es ist nun an der Zeit, sich nach brauchbareren Definitionen für „T&CM“ oder „CAM“ umzusehen. Wie wir kürzlich festgestellt haben, kann es überraschend schwierig sein, das Wesen der Paramedizin im Vergleich zur wissenschaftlichen Medizin zu charakterisieren. Da ist zunächst der Aspekt der Abgrenzung:
Alternative medicine is basically an anti movement – anti-establishment, anti-science.
Alternative Medizin ist im Wesentlichen eine Gegenbewegung – gegen das etablierte System, gegen die Wissenschaft. [Edzard Ernst]
Und als solche ist sie nicht integrierbar. Zu beachten ist, dass der Begriff bei näherem Hinsehen historisch sein muss: ein unterscheidendes Merkmal der wissenschaftlichen Medizin ist, dass sie sich entwickelt, und entsprechend verändert sich, was als Paramedizin zu gelten hat. Die Berufung auf eine jahrhundertealte Volksweisheit™ ist deshalb schon von vornherein verdächtig, und die Bezeichnung „Traditionelle Medizin“ eigentlich desavouierend. Die Anwendung von Strophantin bei Herzschwäche beispielsweise entsprach lange Zeit dem Stand der Wissenschaft – heute ist das Quacksalberei. Es ist insofern auch unpassend, den Begriff „CAM“ auf die offenkundig absurden Verfahren (wie Homöopathie oder Reiki) zu beschränken. In den Kern einer Begriffsbestimmung gehört die Bewertung als Überschätzung im Lichte der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz, welche sich übrigens, wenn auch unreflektiert, wie ein roter Faden durch die WHO-Strategie zieht. Kimball Atwood formulierte das wie folgt:
“[Die Paramedizin ist] ein Spektrum von nicht plausiblen Glaubensannahmen und Ansprüchen betreffend Gesundheit und Krankheit. Dieses Spektrum reicht vom Nicht-Überprüfbaren und Absurden bis zum Möglichen aber nicht Faszinierenden. In allen Fällen übersteigt der Enthusiasmus ihrer Vertreter die wissenschaftlich begründbaren Aussichten um Größenordnungen.”
- ↑ WHO’s mixed priorities, The Lancet Oncology, 2006, Vol 7 July 2006, 525
- ↑ Hack-Seang Kim: Do not put too much value on conventional medicines. Journal of Ethnopharmacology 100 (2005) 37–39, Abstract hier
- ↑ WHO 2009, PDF hier, S. 9-12 und S. 43-61. Zu den Bedingungen für die Teilnahme an dem von einer japanischen Stiftung initiierten Programm gehörte, dass es sich um „große Familien mit Kindern, Eltern und Großeltern“ handeln sollte; mit den 8 $/Jahr konnten also jeweils fünf bis 10 Menschen versorgt werden, zuzüglich des Viehs. Sinnvoll ist natürlich die Bereitstellung von Pflastern und Verbandmaterial (im Wert von etwa 1 US-Dollar).
- ↑ Es scheint sich vor allem um Kräutermischungen zu handeln. „Sorool-4“ beispielsweise wird weithin in der mongolischen Volksmedizin verwendet. Es ist eine Mischung aus Sternmiere (Stellaria dichotoma L.), Süßholzwurzel (Glycyrrhiza uralensis), Schellack (Laccifer lacca – wäre zumindest physiologisch unbedenklich) und Knöllchen-Knöterich (Polygonum viviparum) (s. hier). Zu letzterem weiß der Volksmund: „Wenn die Kühe verhext waren und keine Milch mehr gaben, verfütterten die Sennen dieses Kraut und die versiegte Milch floss wieder (daher die Namen ‘Bring ma’s wieder’, ‘Wiederkumm’ und ‘Verloren-Kehrwieder’).“ „Gurgum“ wird gelegentlich mit Safran übersetzt, aber der Preis spricht gegen eine Identität. „Sugmel“ scheint Kardamom zu sein, und „Sugmel-7“ lässt Mäuse länger schwimmen und mehr Urin produzieren (s. hier) (Gegen welche Krankheiten es hilft, haben wir nicht herausgefunden).