Zum wiederholten Mal hat eine große Biosupermarktkette Lebensmittel wegen Schadstoffbelastungen zurückgerufen. Zuletzt, im März 2015, waren dort in Hirsebällchen Tropanalkaloide festgestellt worden.
Kurz davor erwischte es einen Hirse-Getreidebrei mit Reis, in dem ebenfalls Tropanalkaloide auffielen.
Mit Tropanalkaloiden hatte Anfang 2015 auch die verbreitete Biomarke „Rapunzel“ zu kämpfen, und zwar in Maisgrieß-Produkten.
Pyrrolizidinalkaloide fanden sich im Biobabytee und gentechnisch verändertes Gemüse im biologisch-dynamisch überbauten Babygemüsebrei von Demeter.
Stimmt etwas mit den Zulieferern nicht? Nein, das ist es nicht. Das Problem sitzt viel tiefer – es sitzt in einigen Lebenslügen der Branche.
Erste Lebenslüge: Bio ist ohne Gift.
Falsch. Richtig ist vielmehr: Bio enthält allenfalls weniger synthetische Giftstoffe. Unter dem Strich könnte ein Nullsummenspiel vorliegen. Moderne Herbizide verschonen das kultivierte Produkt. Sie sind in irgend einer Dosis toxisch, aber das liegt im Wesen einer Substanz, mit der man Lebendes zu Totem machen will, und gerade das aktuell wieder einmal so gescholtene Glyphosat schneidet in dieser Hinsicht geradezu vorbildlich ab. Interessanter ist die Frage, ob es dem Konsumenten schadet und wieviel im Produkt davon zurückbleiben darf. Dafür gibt es Grenzwerte in teilweise abenteuerlich niedrigen Größenordnungen. In der Natur trachtet allerdings auch eines nach dem Leben des anderen, vor allem, wenn es ums Gefressenwerden als Alternative geht. Giftstoffe sind in Pflanzen weit verbreitet – Pflanzen müssen sich stationär verteidigen, sie können ja nicht weglaufen. Verzichtet man auf Herbizide, die den allgegenwärtigen Giftmischern aus Mutter Natur den Garaus machen, vertauscht man eine Belastung gegen die andere; und im
Falle Alnatura scheint genau das wiederholt der Fall gewesen zu sein. Tropanalkaloide zum Beispiel sind natürliche Pflanzengiftstoffe, sie kommen vor allem in den Nachtschattengewächsen , Windengewächsen, Rotholzgewächsen, Silberbaumgewächsen und Rhizophoragewächsen vor, vereinzelt auch in Wolfsmilchgewächsen und Kreuzblütlern – so ziemlich alles, was im oder am Getreidefeld wuchert. Verzichtet man auf die Bekämpfung solcher Gewächse in den Getreidekulturen, wandern deren Giftstoffe in die fertigen Produkte – unter anderem in den Babybrei.
Manchmal ist es auch einfach das Leitungswasser, das einen Strich durch die saubere Rechnung macht, so im Falle von Chlorat-Funden in einem Sojadrink, was zu einer herben Abwertung bei Öko-Test führte, und wozu der Vermarkter schreibt:
„Die Spuren von Chlorat im Alnatura Sojadrink Calcium sind auf das verwendete Trinkwasser zurückzuführen. In Deutschland kontrollieren die Wasserversorger das Trinkwasser regelmäßig und versetzen es dort, wo es notwendig ist, mit einer minimalen Menge Chlor“.
Zuvor, im Heft 1/15 beanstandete Öko-Test Kartoffeln wegen Cadmium-Gehalten. Auch hier die gleiche Reaktion:
„Cadmium ist ein Stoff, der in der Umwelt weit verbreitet und praktisch überall zu finden ist. Je nach Anbauregion ist das Metall in den Böden in unterschiedlichen Konzentrationen enthalten. Hier wird es natürlicherweise von den Pflanzen in Spuren aufgenommen.
Die Europäische Kommission hat Höchstgehalte für Cadmium in Lebensmitteln festgelegt. Diese Höchstmengen werden von Alnatura -Kartoffeln deutlich unterschritten. “
Das gleiche Spiel wenige Monate vorher mit als erhöht eingestuften Thiaclopridgehalten im Honig, Anthrachinon im schwarzen Tee, Mineralölbestandteilen in Mandeln (hier sogar ein „mangelhaft“), Acrylamid im Kaffee, 3-MCPD- und Glycidylestern, Spuren von DDAC im Dinkel-Milchbreipulver, Pyrrolizidinalkaloiden im Stilltee.
Alnatura ist zugute zu halten, dass das Unternehmen die Sache offensiv handhabt und konsequent zurückruft, auch auf die Gefahr hin, dass der eine oder andere eingeschnappte Biobürger sich nachhaltig abwendet. Nur deckt Alnatura damit eben auch gerade die Lebenslüge Nr. 1 auf.
Dass das Problem tatsächlich viel größer ist, als es die offensive Veröffentlichungspolitik von Alnatura und Rapunzel annehmen lässt, dringt hier und da schon einmal durch:
„Besonders anzurechnen deshalb, weil beispielsweise bei den seit November 2014 aufgekommenen Rückrufmaßnahmen für belastete Natur-/Getreideprodukte wieder einmal deutlich festzustellen war, das Unternehmen diese „Unregelmäßigkeiten“ aufgrund fehlender, verbindlicher Vorgaben unterschiedlichst „kommunizieren“ – mit der Folge, dass nur ein Bruchteil betroffener / gefährdeter VerbraucherInnen davon erfährt.“
Zweite Lebenslüge: Die Natur ist Dein Freund.
Falsch. Richtig ist: Leben bedeutet Überleben. Wer sich nicht gegen natürliche Einflüsse wehrt, lebt nicht lange. Die Natur hat einige der übelsten Giftstoffe höchstselbst ausgebrütet. Krebserzeugende Aflatoxine sind natürliche, von Schimmelpilzen erzeugte Gifte. Sie kommen praktisch überall vor, wo Lebensmittel gelagert werden. In erträglichen Mengen bleiben sie nur unter modernsten Lagerungsbedingungen – temperiert, belüftet – und eben auch chemisch unterstützt. Die letzten in größerem Maßstab aufgefallenen Proben kamen aus der Maiserzeugung eines eher rückständigen, kleinbäuerlich geprägten Produktionslandes – Serbien.
Botulinumtoxin, das Gift des Bodenbakteriums Clostridium botulinum, ist ein Supergift; mit etwa einem Gramm davon ließe sich Deutschland entvölkern, gerechte Verteilung vorausgesetzt. Gefährdet sind Fleisch- und Fischkonserven, Mayonnaise, aber auch schwachsaure Frucht- oder Gemüsekonserven – alles, was unter Luftabschluss gehalten wird und mit dem Bakterium in Kontakt gekommen ist.
Und noch ein schreckenerregendes Beispiel: den folgenschwersten Lebensmittelskandal verdanken wir nicht irgend einem an der Nachweisgrenze aufgefundenen Schadstoff – vergessen Sie das Dioxin-Ei so schnell, wie es Ihnen einfiel. Es geht um EHEC, ein Kolibakterium aus der Escherichien-Familie. Über 4000 Erkrankte, darunter über 800 Schwerstkranke, gezeichnet für den Rest ihres Lebens – und 53 Tote: das war die Bilanz des Sommers 2011. Die wahrscheinlichste Quelle: kontaminierte Rohkostsprossen aus Bio-Erzeugung.
Die bedeutendste gesundheitliche Gefahr aus unserer Nahrung ist, trotz wesentlicher Verbesserungen (und abgesehen von primären Pilzvergiftungen), immer noch die gleiche wie in alten Zeiten: mikrobielle Kontamination. Trotz stetig sinkender Fallzahlen gibt es in Deutschland jährlich noch etwa 15.000 (gemeldete) Salmonellosefälle. Bei einer Letalitätsrate von etwa einem Promille sind das mehr als ein Dutzend Todesfälle jährlich, die sich, Fall für Fall, präzise und eindeutig auf diese höchst natürliche Form bestimmter Verunreinigungen zurückführen lassen (die ungemeldeten Fälle gar nicht mitgerechnet) – und nicht mit abenteuerlichen Hochrechnungen aus unbelegten Toxizitätsvermutungen. Das hat noch kein Dioxin-Ei geschafft.
Natürlich ist erst einmal nur natürlich. Ob es gesund – oder wenigstens nicht ungesund – ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Und ob ein Überrest von synthetischen Pflanzenschutzmitteln in der Nähe der technischen Nachweisgrenze nicht sinnvoller und am Ende weniger schädlich ist als ein Cocktail aus der Giftküche von Mutter Natur, sollte besser nicht weltanschaulich, sondern toxikologisch beurteilt werden.
Dritte Lebenslüge: Null-Toleranz gegenüber jeglichen Giftstoffen!
Unsinnig. Richtig ist: dann könntet ihr euren Laden dichtmachen. Obst, Gemüse, Getreide, Milch, Eier, Fleischwaren – einfach alles enthält irgendwelche Stoffe, die in irgend einer Dosis schaden können, und das gilt unabhängig von Grenzwerten, die auf der politischen Ebene ausgekungelt werden. Nur: solche Dosen kommen in der Praxis fast nie vor. Auch bei Alnatura scheint man sich das klargemacht zu haben, denn die oben schon zitierte beschwichtigende Sprachregelung heißt: in den vorgefundenen Mengen ist das Zeug, dessentwegen eine Abwertung erfolgte oder wir zurückrufen, ungefährlich. Das ist wahrscheinlich sogar richtig, aber – wie war das noch gleich mit der Nulltoleranz gegenüber Giftstoffen? Weshalb ruft man dann überhaupt zurück? Oder ergäbe es einen Sinn, gegenüber Giften aus natürlichen Quellen eben doch ein bisschen toleranter zu sein als gegenüber denen aus dem Reagenzglas? – womöglich sogar dann, wenn sie chemisch ganz oder fast vollständig identisch sind? Vernünftigerweise doch wohl nicht. Dann aber ist es Essig mit der Nulltoleranz als Ziel der Biolandwirtschaft.
Und was soll man im Ernst von einem Schadstoff-Testergebnis halten, bei dem ein mit Leitungswasser gewaschenes Produkt wegen Chloratgehalten abgewertet wird? Womit brüht man in der Ökotest-Redaktion eigentlich den Kaffee?
Manchmal ist es sogar gerade die spezifische Anbau- und Pflanzenschutzmethode der Bio-Landwirtschaft, die ernstzunehmende Kontaminationen verursacht. Kürzlich bekannt geworden ist ein Fall, in dem ein Glühweinprodukt mit überhöhten Kupferwerten zurückgerufen werden musste.
Kaum ein konventioneller Winzer verwendet gegen falschen Mehltau noch das archaische Kupfervitriol als Spritzmittel – lebertoxisch, gewässerschädlich, im Boden anreichernd. Im Bioweinbau ist es – weil es keine Alternativen gibt – das Mittel der Wahl, es dürfen innerhalb der ausgebrachten Lösung bis zu 3 kg reines Kupfer pro Hektar und Jahr ausgebracht werden. Ein hausgemachtes Bio-Problem, zurückführbar eigentlich nur auf eine weltanschaulich begründete Abscheu vor Produkten der chemischen Industrie.
Vierte Lebenslüge: Das ist ein Problem der Bio-Supermärkte.
Unhaltbar. Richtig ist: bei den kleinen Erzeugern und Vermarktern merkt es bloß keiner. Und welcher Kleinkrämer, der ein paar Gläser aus dem „Rapunzel“-Sortiment in seinen Regalen stehen hat, organisiert einen Rückruf unter seiner Kundschaft?
Fünfte Lebenslüge: Bio ist ohne Gene
Falsch. Bio ist nicht einmal ohne gezielte grüne Gentechnik. Dass selbst bei denen, die mit dem Mond tanzen, Reste von gentechnisch veränderten Pflanzen im Babygemüse landen, hatten wir ja schon erwähnt. Und noch einmal am Beispiel Alnatura: Öko-Test hat im Heft 6/15 einen „Sojadrink Calcium“ auf „ausreichend“ abgewertet, weil Spuren gentechnisch veränderter Bestandteile festgestellt wurden. Alnatura schreibt dazu:
„Gentechnisch veränderte Pflanzen sind mittlerweile im konventionellen Landbau weit verbreitet. Durch Pollenflug können sich diese unerwünschten und im Bio-Landbau verbotenen Pflanzen verbreiten und so auch auf biologisch bewirtschaftete Felder gelangen. Deshalb lassen sich Spuren gentechnisch veränderter Pflanzen leider nicht immer vollständig vermeiden. Vereinzelt kann es auch beim Transport zur unbeabsichtigten Übertragung von Stäuben kommen…“.
Und weiter: im Prinzip sei das alles ungefährlich. Nur: dann stimmt etwas an den Grundsätzen nicht, oder? Wozu verbannt man absichtlich angewendete grüne Gentechnik, wenn unabsichtlich eingetragene auch nichts tut? Wissen die Gene, ob sie vorsätzlich oder fahrlässig handeln?
Noch gar nicht behandelt ist damit das Thema der antediluvialen Gentechnik mit dem Holzhammer, über die wir schon einmal berichteten. Da bekommt man zu den Genen auch noch die Strahlen, grausig aber wahr. Natürlich finden Sie solche Erzeugnisse im Obstregal Ihres Biomarktes, allen voran die rosa Grapefruit.
Sechste Lebenslüge: Bio ist regional
Falsch. Es ist überhaupt kein Problem, an zwölf Monaten im Jahr im Biosupermarkt frisches Obst und Gemüse aus Übersee einzukaufen. Selbst Wein aus Australien, Neuseeland, Südafrika und Lateinamerika, bei dem sich die Frage der Frische nun wirklich nicht stellt, ist ständig im Sortiment, von konservierter Feinkost ganz zu schweigen. Agavendicksaft wird nicht beim Biobauern Bernhard gewonnen, sondern dort, wo er als Nebenprodukt bei der Tequila-Herstellung übrigbleibt. Und alles Himalayasalz, das tatsächlich aus dem Himalaya und nicht, wie so oft, aus Polens Salzbergwerken stammt, müsste man auch auf die Sündenliste setzen. Der Grund ist naheliegend: würden die Märkte nur saisonal und regional verfügbare Produkte anbieten, ließe die Stammkundschaft aus dem zahlungskräftigen und anspruchsvollen gehobenen Mittelstand sich das nicht bieten. Bis zu einem Steckrübenwinter reicht der Enthusiasmus dieser Klientel dann doch nicht.
Ein beruhigendes Fazit
Wer Geschmack an bestimmten Produkten hat, mag sie kaufen, wo er/sie will. Die sensorische Qualität darf entscheiden, auf einer anderen Ebene sicher auch der Preis – mehr ist vernünftig nicht zu begründen. Für empfindliche Gemüter könnte man noch einen Rat anschließen: wer sicher gehen will, keine Impfgegnerkampagnen durch die Hintertür zu finanzieren, kann gerne um Demeter-Produkte einen Bogen machen.