In einem Gedankenexperiment wird gedanklich eine Situation konstruiert, die real so nicht oder nur sehr schwer herzustellen ist. Sodann malt man sich im Geiste aus, welche Folgen sich aus dieser Situation ergeben, wenn man die Theorie auf die Situation anwendet. Gedankenexperimente haben dabei geholfen, das Wissen der Menschheit enorm zu erweitern – etwa bei Albert Einstein, dessen seine Relativitätstheorien sich ursprünglich auf die simpelsten gedanklichen Szenarien gründeten, bevor auch nur der Rechenstift eine einzige Formel aufs Papier brachte. Ein mächtiges Werkzeug der Erkenntnis also. Vielleicht hilft es uns ja auch bei grundsätzlichen Fragen des Gesundheitswesens – wir wollen einmal sehen.
Ein beliebtes Manöver der Heilpraktikergemeinde und ihrer Fans besteht darin, Unglücksfälle gegeneinander aufzurechnen. Wenn also wieder einmal die Handreichung aus der Parallelwelt der Geister und feinen Stoffe versagte, die Geisterhand beim Zusammenrühren seltsamer Gebräue etwas ins Zittern kam und der Ausgang – leider, leider – wieder einmal fatal war: dann rechnet man flugs eine Zahl dagegen, die für die „Opfer“ der Schulmedizin stehen soll, und – sacrebleu! – schon leuchtet die eigene Weste wieder fast blütenweiß.
Nun kann man mit den besten Vernunftsgründen argumentieren, dass Fehler im Flugzeugbau nicht die Existenz fliegender Teppiche beweisen. Aber das ist etwa so wirkungsvoll wie ein Kniff ins Ochsenhorn. Dafür, dass solche Zahlenvergleiche allenfalls dann einen Sinn ergeben, wenn man sie auf beiderseits nach Anzahl und Schwere vergleichbare Fallpopulationen anwendet, gilt das gleiche: wer ernsthaft die Wahl zwischen realer und alternativer Welt zu Gunsten der letzteren getroffen hat, ist für solche Spitzfindigkeiten nicht mehr zugänglich.
Aber vielleicht hilft ja ein Gedankenexperiment weiter. Was ist also dran an der behaupteten Überlegenheit der schönen sanften, natürlichen, holistischen, komplementären oder alternativen Heilerwelt, die doch wohl unfehlbar bestehen müsste, mit den vorteilhaftesten Auswirkungen auf die Volksgesundheit. Basteln wir also einen gedanklichen Versuchsaufbau zusammen, der zeigen müsste, ob diese These zutrifft.
Und das geht ganz einfach: wir denken uns eine Welt, in der es keine „Schulmedizin“ mehr gibt!
Statt dessen gibt es in diesem Gedankenmodell nun ganz viele Heilpraktiker – das dürfte nicht sonderlich schwer sein, so wahnsinnig hoch sind die Zugangsvoraussetzungen ja nicht – im Grunde reicht ein Mindestalter von 25 Jahren, ein Hauptschulabschluss und das Bestehen eines Tests, in dem rudimentäre Grundkenntnisse abgefragt werden, und sei es erst im x-ten Versuch. Nicht einmal der Besuch einer „Heilpraktikerschule“ oder „-Akademie“, was aufs selbe herauskommt, ist erforderlich. Angesichts dessen, was dort zuweilen gelehrt wird, könnte er im Prüfungsverfahren sogar hinderlich sein. Die Lücken, die die Ärzteschaft hinterlässt, wären also rasch geschlossen. In tausendjährigen Zeiten, aus denen der Heilpraktiker bis heute seine gesetzliche Existenzsicherung herleitet, waren ja auch die gut 8000 jüdischen Ärzte, die der Verfolgung ausgesetzt waren, alsbald irgendwie ersetzt. In dieser Konstellation müsste sich eigentlich zeigen, wie es um die Volksgesundheit bestellt wäre, wenn die durch kleinliche Evidenz geknebelte und durch Vergessenheit uralter Erfahrungsheilkunst unmenschlich gewordene Schulmedizin abgeschafft wäre.
Und dazu nehmen wir einmal den einen oder anderen nicht ganz so seltenen Probefall an und schauen, was sich aus dem gedanklichen Versuchsaufbau ergibt.
Fall 1:
In der belebten Fußgängerzone einer größeren Stadt lehnt eine Person an einem Baum, die über Schwäche, Schwindelgefühl, Herzrasen und Brechreiz klagt. Glücklicherweise ist ein homöopathisch geschulter Heilpraktiker zur Stelle und zückt ein Fläschchen mit Tabacum D 12 – Globuli, gebräuchlich bei Schwindel, Herzrasen und Übelkeit. Der unter hyperglykämischer Stoffwechselentgleisung stehende Diabetiker erträgt die unvermeidliche Erstverschlimmerung mannhaft.
Fall 2:
In der Heilpraxis um die Ecke wird ein Patient angeliefert, der über einen steifen Nacken klagt und einen etwas unruhigen, aber trüben Eindruck macht. Der niedergelassene Heilpraktiker vermutet das, was ihm in Vorbereitungskursen in solchen Fällen nahegebracht wurde: eine lokale Blockade, die durch energetische Anwendungen zu beheben sein wird. Den ersten Folgetermin bei einem befreundeten Osteopathen erhält der Patient innerhalb einer Woche. Bis dahin erhält er Zuckerkügelchen. Leider stellt sich der Patient nicht wieder vor, denn drei Tage nach dem ersten Termin ist er tot. Die Möglichkeit, die tatsächlich bestehende bakterielle Meningitis richtig zu diagnostizieren und wirksame Antibiotika anzuwenden, hatte der Heilpraktiker nicht, und er hätte sie auch gar nicht haben wollen, weil sie seiner Meinung nach dasjenige verdeckt hätten, was die Krankheit dem Mann sagen will.
Fall 3:
In der Geschäftsführung des örtlichen Alternativklinikums berät man gleichzeitig die Errichtung eines neuen Großkühlhauses für die Onkologie – nein, nicht was Sie jetzt denken, so platt machen wir das hier nicht! – sondern wegen der Aufbewahrung der Berge von Karotten, Broccoli, Weißkohl und Obst, die für die natürliche diätetische Krebsbehandlung an die Schwerkranken dort verfüttert werden müssen. Derweil hört man über dem Hof das typische Geräusch der Nussknacker, mit denen fleißige Hände Aprikosenkerne knacken, um an die blausäurehaltigen Kerne heranzukommen – alles frisch, man schuldet den Kranken ja nur das Beste.
Fall 4:
Die Unfallnotaufnahme ist gerade mit offenen Unterschenkelfrakturen befasst. Man tackert das eben zusammen, stärkt die körpereigenen Heilkräfte mit einer herzhaften Gabe Calcium phosphoricum und Silicea terra D 12 und vertraut nach erhoffter Abheilung auf den guten Erfolg chiropraktischer Mobilisierung. Antibiotika gegen Infektionen, unter anderem auch gegen die gefürchteten Knocheninfektionen und ihre Folgen: siehe oben.
Fall 5:
In der Gynäkologie hat man gerade ein Problem, weil der leitende Oberheilpraktiker mit der diensthabenden Hebamme einen grundsätzlichen Disput darüber führt, ob die im Geburtshaus nebenan nach zwölf Stunden festsitzende Geburt in Beckenendlage durch einen Eingriff zum Abschluss gebracht werden kann, oder ob man der Natur ihr Recht überlassen und der Misere bis zum Ende zuschauen sollte.
Fall 6:
Und am Flughafen trifft eine Reisegruppe aus Westafrika ein, bei der ein halbes Dutzend Personen über grippeähnliche Muskel- und Gliederschmerzen, Übelkeit und Erbrechen klagt. Zwei von diesen Personen weisen einen ungewöhnlichen Hautausschlag und Blutungen in die Haut auf. Sofort tritt das örtliche Heilpraktikerkonzil zusammen und berät, woher in kurzer Zeit die benötigten Mengen Lachesis C 30 zur Behandlung hämorrhagischer Fiebererkrankungen organisiert werden können.
Die Liste der Fallgestaltungen ließe sich gerne noch verlängern, man denke nur an homöopathischen Impfungsersatz, numerologische Anwendungen bei Gemütskranken, energetisches Blockade– und chiropraktisches Knochenbrechen, Colon-Hydro-therapeutische Klistierspiele, Aurachirurgie, brennende Kerzen in den Ohren – das Füllhorn der heilpraktischen Phantasie (oder die Büchse der heilpraktischen Pandora, wie man’s nimmt) kennt weder Grenzen noch Verwandte.
Hand aufs Herz: klingt der Ausruf
Lassen Sie mich durch, ich bin Heilpraktiker!
wirklich beruhigend, wenn Not an Mann oder Frau ist? Am Ende bleibt immer nur die eine Frage übrig:
Wäre die Verwirklichung unserer gedanklichen Versuchsanordnung, also die Ersetzung der akademischen „Schul“-Medizin, wirklich mit einer Verbesserung der Volksgesundheit verbunden – oder doch mit dem Gegenteil?
Entscheiden Sie!