Sucht man in der Bildersuche einer bekannten Internet-Suchmaschine (die mit G beginnt und mit oogle aufhört) unter dem Stichwort „Gnadenhof“, so findet man eine ganze Menge mehr oder minder putziger Tierchen, die behütet im Kreise ihrer engsten Wahlverwandten ihren Lebensabend zubringen. Auch Frau Hilal Sezgin, Schriftstellerin, Journalistin und Autorin, unterhält so eine Einrichtung, die sie allerdings aus emotionaler Rücksichtnahme nicht Gnadenhof, sondern „Lebenshof“ nennen mag. Sie kennen Frau Sezgin nicht zuletzt als Urheberin der Sentenz:
„Artgerecht ist nur die Freiheit“
die bekanntlich auch der Titel ihres bestverkauften Buches ist.
Das mag sein, aber es verträgt sich nicht mit den visuellen Informationen, die der Betrachter aus der Bilderrecherche erlangt. Denn dort wimmelt es von: Zäunen. Mal sind es Maschendrahtzäune, mal sieht man zusammengeschnürte Bauzäune aus gewöhnlichen Doppelstabmatten, ein andermal sind es Jägerzäune, Bretterzäune, und so geht das immer weiter. Stimmt etwas mit der Selbstwahrnehmung der Hofbetreiber nicht? Vielleicht. Aber was da jedenfalls nicht stimmt, ist die Vorstellung von „Freiheit“ und von dem, was Freiheit eben auch bedeutet.
Die vielen Zäune dort haben einen auf der Hand liegenden Zweck: sie sollen die tierischen Altenteiler am Ausbüxen und den Fuchs (demnächst wohl leider auch wieder den Wolf) am Eindringen hindern. Denn unterschwellig wissen auch die lieben Wirtsleut‘: ohne freiheitsberaubende Zäune wären die Begnadigten alsbald verstoffwechselt. Auch Frau Sezgin kennt das Problem; deshalb schreibt sie dazu:
Nun, „Freiheit“ meint ja nicht vor allem die empirische Möglichkeit, alles tun und lassen zu können, was einem beliebt; niemand von uns kann das. „Freiheit“ im moralisch-politischen Sinne hingegen heißt, dass man nicht von der Willkür anderer gezwungen, beeinträchtigt, ausgebeutet wird. In diesem Sinne sind die hiesigen Schafe frei. Natürlich sind ihre Weiden eingezäunt – zu ihrem eigenen Schutz.
Der Frage, ob (die kinderlose) Frau Sezgin sich den Schutz von Kindern durch Gehegehaltung vorstellt, wollen wir nicht weiter nachgehen. Auch die schwer nachvollziehbare Konsequenz, dass dann nur eine „moralisch-politische“ Freiheit artgerecht wäre, wollen wir lieber mit dem Mäntelchen der Nachsicht bedecken. Aber natürlich ist ein Schaf, von dem Frau Sezgin spricht, in gar keiner Hinsicht „frei“, wenn es jenseits seiner Umzäunung eine Weide wittert, die doppelt so saftig ist, wie das vielfach abgeweidete Stück Land diesseits des leidigen Zaunes. Und es ist ganz klar: der bewusste Zaun ist selbstverständlich – und gerade „im moralisch-politischen Sinne“ – ein Stück Bevormundung des lieben Viehs, dem menschliche Maßstäbe dessen übergestülpt werden, was das Beste für es sei. Ganz zu schweigen von den hungernden karnivoren Mitgeschöpfen in der realen, nicht nur in einer menschlich-kulturell konstruierten „moralisch-politischen“ Freiheit.
Was Frau Sezgin unter dem Schutzgedanken verdrängt, ist die unangenehme – und auch in anderem Zusammenhang gerne verdrängte – Kehrseite von Freiheit, nämlich die Gefahr. Frau Sezgin weiß ganz genau, dass der Verzicht auf ihre moralisch-politisch korrekten Zäune das baldige Ende ihrer Schützlinge bedeuten würde; denn, und diese Kehrseite ihrer Parole mag sie offenbar ganz und gar nicht wahrhaben:
Artgerecht ist nur das Gegessenwerden!
Dieser Satz gilt praktisch universell, er gilt selbst für den Verfasser dieser Zeilen und seine Leser. Er gilt am Ende sogar für die auf Gnadenhöfen gehaltenen Kreaturen, selbst wenn das arme Schwein sechsspännig zur letzten Ruhestätte kutschiert wird. Denn nichts anderes ist das Schicksal aller lebenden organischen Substanz im Kreislauf der gnadenlosen Mutter Natur. Alles andere wäre viel zu verschwenderisch.
Zuerst bedienen sich die Beutegreifer – das sind diejenigen, die wir „Raubtiere“ nennen, und alternativ dazu die Parasiten, quasi die Kategorie 1 b. An dem, was diese beiden übriglassen oder was dem Verhungern oder Verdursten zum Opfer fällt, bedienen sich als nächstes die Aasfresser, die spezialisierten und die opportunistischen. Hyänen und Geier gehören hierher, weniger exotisch beispielsweise auch Füchse, Dachse, Ratten, heimische Greifvögel, Rabenvögel sowie das eine oder andere Reptil. Und natürlich allerlei Insektenlarven, Maden, Würmer, auch die müssen von irgendetwas leben. Den Rest, bis auf die Knochen, besorgen Kleinlebewesen, Mikroben. Am Ende ist alles metabolisiert und in die biologische Kreislaufwirtschaft zurückgeführt. Und es glaube ja niemand, im eigenen Grab davor sicher zu sein. Mutter Natur ist viel zu haushälterisch, um irgend eine organische Substanz verkommen zu lassen.
Der „Gnadenhof“ ist eine der größten denkbaren Mogelpackungen. Er stellt ein unhaltbares Versprechen auf, das Entrinnen der Kreatur vor dem Verdautwerden, und um dieses Versprechen glaubhaft zu machen, betrügt es sie obendrein durch Einzäunung und Bevormundung um ihre spezifisch tiergemäße Freiheit – und damit letztlich um die beschworene Artgerechtigkeit. Aber vielleicht kommen die Aktivisten von Peta&Co ja auf eine überzeugende Idee und reißen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Zäune eines Gnadenhofs nieder, schenken den aus politischen Gründen und zur Befriedigung menschlicher Sentimentalitäten eingekerkerten und bevormundeten tierischen Existenzen die wahre artgerechte Freiheit. Und machen damit nebenbei der einen oder anderen in ihrem Bestand bedrohten Art heimischer Karnivoren, vom Fuchs über den Dachs bis zum Habicht (und natürlich auch unserem Wappenvogel, der Eule), ein biologisch sinnvolles und hilfreiches Präsent!
Der (ab)geneigte Leser ist mit der Konsequenz, sich auf eine Stufe mit Aasfressern gestellt zu sehen, vielleicht politisch-moralisch nicht d’accord? Gerne, das mag er sein. Aber er möge sich dann auch klar machen, dass er sich damit in genau die Position überhebt, die er des lieben Viehs zuliebe andererseits bestreitet – in die der („moralisch-politischen“?) Überlegenheit. Willkommen im Dilemma.