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Der Scharlatan ist ein Meister aus Deutschland

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Ein Kommentar von Udo Endruscheit im GWUP-Blog unter dem Artikel Weltberühmt: „Cancer quackery from Germany“  hat uns dazu angeregt, ihn um einen Gastbeitrag für unser Blog zu bitten. Daraus ist ein beeindruckender gesundheitspolitischer Rant entstanden, für den wir uns herzlich bedanken.

 

Mit Volldampf in die Regierungsarbeit – auch in der Gesundheitspolitik! Markige Sprüche, umfangreiche Forderungen von allen Seiten, es gibt offenbar eine Menge zu tun. Der Skeptiker hätte da auch noch ein spezielles, nach seiner Ansicht vordringliches Anliegen: Erst einmal in die Rumpelkammer schauen und ordentlich aufräumen! Dann ist auch wieder Raum für Neues.

Und in der gesundheitspolitischen Rumpelkammer gibt es einiges aufzuräumen. Denn in so mancher Beziehung ist Deutschlands Gesundheitswesen so ziemlich einmalig – leider im negativen Sinne.

Deutschland – das ist das Land der „Heilkundeausübenden“ mit Hauptschulabschluss, Multiple-Choice-Prüfung und beinahe völliger Therapiefreiheit, wie sie praktisch kein approbierter Arzt hat. Was Wunder, dass sich diese „Heilkundeausübenden“ auf breiter Front der verachteten „Schulmedizin“ überlegen fühlen. Was sie mit der stillschweigenden Duldung, wenn nicht Unterstützung der Gesundheitspolitik tun – denn wie sonst sollte man die neuen „Leitlinien für die Heilpraktikerprüfung“ deuten, die nicht im Mindesten das Problem einer medizinischen Parallelwelt lösen können, sondern sie eher noch verfestigen? Das alles, ohne die Übergangsregelungen der Bundesrepublik Deutschland für ein Gesetz aus dem Jahre 1939 anzutasten, wodurch dessen Ziel, das Ende jeglicher Laienheilung, ins Gegenteil verkehrt wurde.

Deutschland –  das Land, das sich inzwischen zur Insel der Unseligen in Sachen Homöopathie entwickelt hat, das die Abkehr von dieser schon seit 150 Jahren wissenschaftlich erledigten Methode in den meisten Industrieländern ebenso beharrlich ignoriert wie die eindeutige wissenschaftliche Studienlage, die der Homöopathie – was Wunder mit ihren naturwissenschaftlich unhaltbaren Prämissen – ein ums andere Mal ein vernichtendes Zeugnis ausstellt? „Ignoriert“ ist dabei geradezu ein Euphemismus. Denn in Wahrheit sieht es so aus, dass die Homöopathie gesetzlich gegenüber wissenschaftlicher Medizin und Pharmazie massiv bevorteilt wird, 1978 durch die Zuerkennung der Arzneimitteleigenschaft nach dem AMG ohne die Notwendigkeit eines Wirkungsnachweises, dazu der Schaffung des „Binnenkonsens“, also das Zugeständnis an die Proponenten der Methode, ihr eigenes Biotop innerhalb des offiziellen Gesundheitswesens zu pflegen. Dazu ein weiteres Mal durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz von 2012, das der Homöopathie die Tore zur Kassenerstattung innerhalb der GKV öffnete. Ohne dass die Voraussetzungen „ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich“ jemals nachgewiesen werden konnten, deren Gültigkeit auch für Homöpathie und Co. höchstrichterlich bereits mehrfach festgestellt wurde! [1] Was die Frage nach der Rechtskonformität der GKV-Erstattung durchaus aufwirft, ungeachtet jeder Praxis.

Deutschland – das Land, wo Propagandisten unwirksamer Mittel sich des Umstandes erfreuen, dass Gerichte eine „gesetzgeberische Erstreckung des Begriffs der pharmazeutischen Wirksamkeit auf Homöopathika“ konstatieren [2] , weil sie zwischen gesetzlicher Privilegierung der Homöopathika im Arzneimittelrecht und wissenschaftlichen Fakten eingeklemmt sind? Wo es bislang kein Positionspapier eines großen Players im Gesundheitswesen gibt, das sich klar zur evidenzbasierten Medizin als Grundlage des Gesundheitssystems bekennt und damit dazu beiträgt, dem Verbraucher / Patienten eine realistische Einschätzung der Lage zu ermöglichen? Der ja ansonsten seine Einschätzung der Homöopathie nur daraus beziehen kann, dass sie vom Gesetzgeber privilegiert, von gesetzlichen Krankenkassen bezahlt und unter Apothekenpflicht betrieben wird…

Deutschland – das Land, wo man aufgrund einer mehr als überholten Gesetzesgrundlage sogar auf den Seiten einer so wichtigen Dienststelle wie des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte Geschwafel über einen seit Jahrzehnten überholten „Wissenschaftspluralismus auf dem Gebiet der Arzneimitteltherapie“ lesen kann, also dem Postulat, es gebe „mehrere Medizinen“ resp. „mehrere Wissenschaften“ – nichts anderes als eine Rechtfertigung von Willkür- und Glaubensmedizin? [3] Wie sie seinerzeit als Echo auf die Zeiten des Neomystizismus der 1970er Jahre und der „idealistischen“ Betrachtung menschlichen Erkenntnisvermögens noch in den 1990er Jahren als „Dualismus in der Medizin“ propagiert wurde? Kleiner Hinweis: Diese „idealistischen“ Zeiten sind vorbeigezogen, haben den Grundsätzen des kritischen Rationalismus in der Wissenschaft Platz machen müssen, die einen einheitlichen Wissenschaftsbegriff geformt haben, in der ein Platz für „alternative Methoden“ nicht mehr reserviert ist. Denn entweder wirkt etwas nachweislich, dann ist oder wird es Teil des wissenschaftlichen Konsens (in unserem Falle der Medizin), oder es wirkt nicht, dann ist es auch nichts. Der idealistische „Dualismus“ hat längst dem Konzept der evidenzbasierten Medizin den Platz räumen müssen. Nur nicht in Teilen des deutschen Gesundheitswesens.

Deutschland – das Land mit dem zahnlosesten Verbraucherschutz im Gesundheitsbereich weit und breit? Das Heilmittelwerbegesetz entfaltet – das erkennt jeder, der Augen im Kopf hat und im Internet unterwegs ist – kaum Wirkung. Die Hersteller dubioser Mittel und die mit ihnen verbundenen Portale im Netz lassen es häufig einfach darauf ankommen in der nicht unberechtigten Hoffnung, es werde schon niemand etwas unternehmen. Und da haben sie recht. Die Konkurrenz handelt nicht anders, das ist schon mal ein gewisser Schutz. Und staatliche Stellen, die Verstöße gegen das HWG feststellen, gibt es nicht. So etwas bleibt allen Ernstes privatem Engagement von Verbraucherschützern und Skeptikern überlassen. Und von einer Regulierung der sogenannten „Geistheilerszene“, bei der offenbar zunehmend Menschen Rat und Hilfe bei konkreten gesundheitlichen Problemen suchen, aber im günstigsten Fall nur Geld verlieren, wollen wir gar nicht erst anfangen… Wem ist schon bekannt, dass z.B. in Australien jede irgendwie gesundheitsbezogene Werbung in Print-, Online- oder Broadcastmedien einer unabhängigen Prüfstelle vorab vorgelegt werden muss? Wobei, wie vor kurzem bekannt wurde, rund 70 Prozent dieser Vorlagen zu beanstanden waren…

Deutschland – ein Land, wo skeptische Kritiker all dieser Umstände nahezu als Verschwörungstheoretiker angesehen werden und sich manchmal schon selbst so vorkommen?

Kann es noch schlimmer kommen? Es kann.

Deutschland – das Paradies der Gelddruckmaschinen mit angeschlossener Quacksalberklinik? Weitaus mehr Aufmerksamkeit im Ausland als im Inland erfährt der Umstand, dass Deutschland offenbar so etwas wie das Paradies der „alternativen Krebskliniken“ ist, deren Einrichtung und Betrieb ersichtlich nicht viel mehr erfordert als die Verwaltungsgebühr für die Registrierung der Einrichtung. Nicht zum ersten Mal macht Prof. David Gorski in seinem weltweit bekannten Blog „Science-Based Medicine“ auf diese deutsche „Spezialität“ aufmerksam. Sein aktueller Beitrag ist „The deadly false hope of German alternative Cancer Clinics“ [4] betitelt und lässt einem eigentlich das Blut in den Adern gefrieren. Prof. Gorski kommentiert darin eine Reportage der US-Journalistin Lindsay Gellman, die auch in deutscher Sprache erschienen ist. [5] Auch ein Blick auf einen früheren Artikel von Prof. Gorski zu diesen „German specialities“ lohnt sich, sofern die Nerven dazu noch ausreichen. [6]

Wird wirklich nicht wahrgenommen, dass in der verantwortlichen Spitze so etwas wie elementare Gesundheitspolitik längst nicht mehr stattfindet? Dass statt der Basics zur Sicherung von wissenschaftlicher Fundierung und Verbraucherschutz im Gesundheitswesen die Kräfte und Kapazitäten in einem Spektrum zwischen bürokratischem Löcherstopfen und dem Simulieren von Wissenschaftlichkeit auf höchstem Niveau (der „Pflege des Binnenkonsens“ durch die Kommissionen C und D und teilweise der Abt. 4 des BfArM) verschlissen werden? Fast möchte  man sagen, es sei in manchen Bereichen hohe Zeit für einen regelrechten Paradigmenwechsel.

Hochachtung vor den Teilen des Konglomerats „Gesundheitspolitik“, die noch einen klaren Kopf behalten und ihre Kräfte daransetzen, das Gesundheitssystem zu schützen und zu bewahren – es gibt sie. Institutionell und persönlich. Ihnen ist Kraft und Durchsetzungsvermögen zu wünschen.

Aber Vorsicht! Das deutsche Gesundheitssystem, wegen absolut unbestreitbarer Vorteile und Errungenschaften in mancher Beziehung fraglos eines der besten der Welt, ist dabei, wegen falscher Toleranz gegenüber Unwissenschaftlichkeit, ideologisch besetzter Duldung unhaltbarer Zustände sowie Ignoranz beim gesundheitlichen Verbraucherschutz seinen internationalen Ruf aufs Spiel zu setzen! David Gorskis Brandmarkung der deutschen „alternativen Krebskliniken“ ist nur ein Signal dafür, allerdings ein starkes. Es braucht zum Gegensteuern längst die Initiative von „ganz oben“, die sich dabei auch nicht von einem falschen Pluralismusbegriff und von einer missverstandenen Selbstverwaltung der Institutionen des Gesundheitswesen blenden lassen darf.

Die Schutzräume für Homöopathie und Heilpraktiker, die eine inhaltlich lange überholte Rechtslage bietet, werden in weiten Teilen des Auslandes (das sich speziell in den letzten zwei Jahren vielfach als erstaunlich reformfähig erwiesen hat) zunehmend mit verständnislosem Kopfschütteln quittiert. Und bald wohl mit Bedauern – und irgendwann nur noch mit einem abschätzigen Lächeln.

Nachhaltigkeit des Gesundheitswesens? Mit Rechtsgrundlagen von 1939 und einem im Arzneimittelrecht verankerten Wissenschaftsverständnis von vorgestern? Nein, das kann nicht gehen. Es ist nicht hinnehmbar, dass der Boden eines zukunftsfähigen, nachhaltigen Gesundheitssystems langsam (und durchaus nicht unmerklich!) morsch wird. Irgendwann wird er nicht mehr tragfähig sein. Also – vor der Grundsteinlegung von gesundheitspolitischen Neubauten sollte erst einmal das Grundstück saniert werden. Packen Sie es an, Herr Spahn! Fragen Sie die richtigen Leute in Ihrem Hause und in den Institutionen des Gesundheitswesens, es gibt sie. Hören Sie auch die kritischen Skeptiker, die sich längst fundiert zu Wort gemeldet haben! [7] Es wird allerhöchste Zeit.

Der Autor bittet um Nachsicht für die in diesem Beitrag gelegentlich durchschimmernde mangelnde Contenance, dies ist sonst eher nicht seine Art. Aber manchmal ist man sich selbst gegenüber machtlos.

 

[1] (BSGE 117, 129 = SozR 4-2500 § 34 Nr 16, RdNr 56 ff; BSGE 110, 20 = SozR 4-2500 § 92 Nr 13, RdNr 34 ff)

[2] https://www.justiz.nrw.de/nrwe/ovgs/vg_koeln/j2017/7_K_2241_14_Urteil_20170530.html

[3] https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arzneimittelzulassung/Zulassungsarten/BesondereTherapierichtungen/_node.html

[4] https://sciencebasedmedicine.org/the-deadly-false-hope-of-german-cancer-clinics/

[5] https://longreads.com/2018/03/22/hoffnung-um-jeden-preis/

[6] https://sciencebasedmedicine.org/german-alternative-cancer-clinics/

[7] http://www.muensteraner-kreis.de/

Wiki: https://www.psiram.com/de/index.php/Hallwang_Klinik

 


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