Man kennt das: ein Mensch redet sich in Rage und vertritt am Ende einer Diskussion, in der er sich entweder bedrängt oder bejubelt fühlt, Positionen, die er, hätte er klaren Kopf und einen Rest an Selbstreflektion behalten, zu Anfang niemals vertreten hätte. Selbst ein Jörg Meuthen soll ja einmal ein – konservativer, aber durchaus raisonabler – Nationalökonom gewesen sein.
Ein weiteres Beispiel lässt sich an dem an der Gesamtuniversität Kassel lehrenden Botaniker und Evolutionsbiologen Ulrich Kutschera studieren. Mit seinen kritischen Anmerkungen zu den um sich greifenden Gender-Theorien und Gender-Ideologien erlangte er eine gewisse Popularität. In der Tat sind viele seiner Bemerkungen in diesem Zusammenhang bedenkenswert, nicht obwohl, sondern gerade weil sie die Objektivität biologischer Fakten gegen die Subjektivität gesellschaftlicher Urteile und Zuschreibungen verteidigen. So weit, so gut – wäre da nicht die Verlockung der falschen Gefolgschaft, die unverhoffte Schützenhilfe wittert; der Reiz, die Dosis der Provokation, die schon einmal für frenetischen Beifall sorgte, noch einmal zu erhöhen. Und so musste es wohl kommen, dass der widerborstige Hochschullehrer der Verlockung, einmal als Tribun des gesunden Volksempfindens aufzutrumpfen, nicht widerstehen konnte. Die sogenannte „Homo-Ehe“ war der Aufhänger, das ultrareligiöse Medium „kath.net“ das Sprachrohr.
Es war dem habilitierten Biologen erklärtermaßen wichtig, seine prinzipiell atheistische und naturwissenschaftlich-materialistische Ausgangsposition in dem Interview vom 3. Juli 2017 klarzustellen:
Als atheistischer Evolutionsforscher bin ich dem christlichen Glauben gegenüber offen und tolerant eingestellt, ohne jedoch Schöpfungsmythen, über Adam und Eva als das erste Menschenpaar, in mein naturalistisches Weltbild aufnehmen zu können. Die offensichtliche Ablehnung der sogenannten „Ehe für alle“, eine Weiterführung des Begriffs „Homo-Ehe“, teile ich.
Weshalb dieses Medium, das Kutscheras Ausgangsposition sonst völlig ablehnt, trotzdem die Chance ergriff, gerade ihn zum Plausch zu bitten, war ihm anscheinend keine Überlegung wert. Und so warf er auf der Woge wohlfeiler Anfeuerungsrufe alle eigentlich angebrachten Bedenklichkeiten auch in sachlicher Hinsicht über Bord. Das Interview geriet genau zu dem Desaster, als das es wahrgenommen wurde.
Die Versicherung, seine Ablehnung der sogenannten Homo-Ehe alleine auf „biowissenschaftliche Fakten“ zu stützen, ist jedenfalls rasch als Lippenbekenntnis erkennbar. Biologisch begründet werden nur ganz wenige seiner Positionen; einige davon sind banal, andere wenigstens diskutabel – seine Position stützt keine einzige. Von den nicht-„biowissenschaftlichen Fakten“ übrigens auch keine. Im Einzelnen:
1.
Kutschera identifiziert kurzerhand die Begriffe Bevölkerung, Population und Fortpflanzungsgemeinschaft – so als lebe die Spezies Mensch in verstreuten Territorien und müsse an der jeweiligen Stelle aufmerksam dafür sorgen, dass eine Gesellschaft in fortpflanzungsfähiger Größe weiterbestehe. „Bevölkerungen“ in menschlichen Gesellschaften, die insgesamt und praktisch lückenlos den gesamten Erdball besetzen, bilden aber nur jeweils staatsrechtlich verfasste und organisierte, aber keine biologischen Entitäten. Kutschera entgeht auf Grund dieser unzulässigen Gleichsetzung, dass das Argument, das er daraus gewinnen will, mit „biowissenschaftlichen“ Fakten genau nichts zu tun hat. Er will daraus herleiten, dass „Staatsführer“ die Aufgabe hätten, den Bestand ihrer Populationen aufrechtzuerhalten. Staatsführer als biologisches Phänomen? Als Agenten der arterhaltenden Fortpflanzung? So haben wir das bisher nicht gesehen. Und übrigens: hat er tatsächlich Staatsführer gesagt?
Abgesehen davon erhalten sich Populationen – generell – nicht durch das Walten von Staatsführungen (sonst gäbe es längst keine Fauna mehr), sondern durch den Geschlechtstrieb; das ist ein biologisches Faktum, wenn eines überhaupt. Es mag in bestimmten Spezies, in denen nur die Alpha-Exemplare den Luxus der Fortpflanzung genießen, anders sein, aber das hat Kutschera sicher nicht gemeint.
2.
Noch weniger biologisch, und zudem in der Sache einfach abwegig, geht es zu, wenn Kutschera weiter folgert, das Verfassungsrecht des Grundgesetzes habe die Familie gerade wegen des Vorgangs der Fortpflanzung unter besonderen Schutz gestellt. Abgesehen davon, dass es hier nicht um Biologie, sondern um Verfassungsrechtsgeschichte geht: daran hat im Parlamentarischen Rat nachvollziehbar niemand gedacht. Art. 6 GG hat seine rechtsgeschichtlichen Wurzeln in etwas ganz anderem: im Schutz der Erziehungsgemeinschaft „Einehe“ und in dem Schutz des Erziehungsrechts der Eltern vor zu weitgehenden Eingriffen des Staats – man hatte unmittelbar zuvor unangenehme Erfahrungen gesammelt: mit Jugendorganisationen wie HJ und BDM, mit Zuchtanstalten wie dem berüchtigten Verein „Lebensborn„. Wer in den Materialien des Parlamentarischen Rats nach Anhaltspunkten dafür sucht, dass „Spermien-Produzenten“ und „Eizellen-Bereitstellerinnen“ in ausreichender Zahl einander zugeführt werden sollten, kann lange suchen – ohne fündig zu werden. Dass es allzeit genug davon geben werde, wurde einfach vorausgesetzt, und bei einem von Kutschera an anderer Stelle konzedierten Bevölkerungsanteil heterosexuell orientierter Bevölkerungsgenossen von 95 % war diese Prämisse wohl auch nicht falsch. Sie entspricht zudem dem Schutzgedanken des Art. 6 GG vor staatlicher Einmischung besser als „Staatsführer“ in der Funktion als Begattungsanimateure.
3.
Kutschera führt weiter aus, der Staat (!) habe nichts von der Privilegierung „steriler Homo-Pärchen“, weil deren Rente von „fertilen“ Paaren bzw. deren Nachkommen aufgebracht werden müssten. Wenn das ein „biowissenschaftliches Faktum“ sein soll, heißt das dann, die umlagefinanzierte Rentenversicherung sei Bestandteil der naturgewollten Ordnung? Otto von Bismarck, deren Schöpfer, hätte sich sehr gewundert: dem alten Junker ging es dabei weder um die Durchsetzung von Naturgesetzen, noch um die Förderung der Fruchtbarkeit seiner Untertanen – es ging ihm einfach darum, der aufkommenden Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Kollegen Historiker hätten es dem Biologen sicher erklären können.
Und im Übrigen: wie verhält es sich denn bei den Spermien- und Eizellenproduzenten, deren Rente nicht umlagefinanziert, sondern kapitalgedeckt ist (z.B. Inhaber befreiender Lebensversicherungen und Mitglieder berufsständischer Versorgungswerke)? Umlagefinanzierte Rentensysteme bilden ja auch im internationalen Rechtsvergleich eher die Ausnahme. Wären in solchen Fällen gleichgeschlechtliche Ehen biologisch in Ordnung, und unter Angehörigen der Deutschen Rentenversicherung Bund nicht?
4.
Bis hierher ist die „biowissenschaftliche“ Grundlage von Kutscheras Position kaum erkennbar – er argumentiert gesellschaftspolitisch, und das mit wenig Ertrag. Zumindest biologisch orientiert ist der Standpunkt, es sei gewissermaßen eine „Strafe“ der Natur, dass homoerotisch orientierte und deshalb nicht reproduktionsfähige Populationsangehörige aus dem Genpool aussortiert würden. Man mag darüber diskutieren, wieviel davon empirischer Überprüfung standhält und wieviel auf vorgefassten Bewertungen beruht. Eines aber ist klar: es stützt Kutscheras Petitum logisch nicht.
Erstens: ein generelles „Aussortieren“ der Disposition findet gar nicht statt. Alle homoerotisch orientierten Populationsgenossen gehen aus heterosexuellen Paarungen hervor, und der Anteil der ersteren liegt beim homo sapiens stabil bei etwa 5 % – räumt Kutschera selbst ein; im Tierreich liegt er bei einigen Arten sogar erheblich höher, worauf Johannes Kaufmann in einem launigen Beitrag bei den Salonkolumnisten kürzlich hinwies. Kein einziger unter diesen 5 % ist das Ergebnis homosexuellen Paarungsverhaltens. Im Gegenteil liegt sogar die Annahme nahe, dass vereinzelte genetische Dispositionen zur Homosexualität vermehrt weitergegeben werden, wenn homosexuell Orientierte in heterosexuellen Ehen ihre Kryptoexistenzen fristen. Aus solchen Mésalliancen gehen immer wieder tatsächlich einzelne Nachkommen hervor. Gerade in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften hätte das von Kutschera inkriminierte Erbgut hingegen keine Chance auf Weitergabe. Schießt Kutschera hier ein Eigentor, ohne es zu bemerken?
Zweitens: Kutschera muss voraussetzen, dass das generelle „Aussortieren“ dadurch erschwert werde, dass gleichgeschlechtliche Paare zur Ehe zugelassen werden, ansonsten führte sein Ansatz ins Leere. Diese Prämisse befindet sich aber erkennbar im Widerspruch dazu, dass aus solchen Ehen gar keine Abkömmlinge hervorgehen können. Die Strafe des individuellen „Aussortierens“ wird durch die sexuelle Orientierung verhängt – nicht durch die Vorenthaltung einer bestimmten institutionalisierten Lebensform.
Man sieht: selbst biologisch führt das Argument nicht zum angestrebten Ziel.
5.
Kutscheras dringendstes Anliegen scheint der Schutz von Kindern zu sein, die in gleichgeschlechtliche Lebensformen aufgenommen werden. Kutschera erörtert die Begriffe einer natürlichen Inzesthemmung und deren vermutetes Unterlaufen durch einen „Stiefvatereffekt“. Hier befinden wir uns in der Tat, wenigstens teilweise, auf „biowissenschaftlichem“ Gebiet.
Für die Existenz einer allgemeinen Inzesthemmung spricht in der Tat eine gute empirische Evidenz, man kennt hier den sogenannten Westermarck-Effekt .
Dass dieser Effekt ein instiktives Verhalten darstellt und nicht individuell angelernt ist, erscheint einigermaßen abgesichert, und es ist auch gut möglich, dass sich solch ein Verhalten evolutionär herausgebildet hat. Ob es eine unmittelbare und spezielle genetische Ursache hat, ist aber, anders als von Kutschera insinuiert, keineswegs geklärt. Möglicherweise spielen Mechanismen eine Rolle, die generell einen evolutionären Vorteil aus einer stärkeren Durchmischung und Verbreiterung des Genpools ausnutzen; zum Beispiel Antigene, die für das Immunsystem wichtig sind, dabei z.B. auch über den Körpergeruch die Partnerwahl beeinflussen. Das hinderte allerdings bestimmte Hochkulturen in geschichtlicher Zeit nicht, den Brauch der Geschwisterehen zu pflegen. Für eine strikte und spezielle genetische Disposition spricht daher nicht viel.
Der von Kutschera angeführte „Stiefvater-Effekt“ kann allerdings ein beachtliches Argument sein, denn tatsächlich weisen kriminologische Untersuchungen darauf hin, dass von Stiefvätern ein deutlich höheres Missbrauchsrisiko ausgeht als von leiblichen Vätern (vergl. Peters/Bongerts: Sexualstraftaten an Kindern – Wer sind die Täter, in NK 2010, 45, 46). Die Daten sind allerdings nicht nach homo- oder heterosexueller Orientierung der Täter aufgeschlüsselt, sie stammen notwendigerweise vollständig aus Familien mit heterosexuell verkehrenden Eltern- bzw. Stiefelternteilen, denn andere gab es zur Zeit der zitierten Untersuchung nicht. Selbst die klassische Ehe und Familie scheint zur Unterbindung eines „Stiefvater-Effekts“ also wenig geeignet.
Interessant ist außerdem, dass als hauptsächliche Triebfeder des Inzest-Täters zwei Aspekte diskutiert werden, nämlich
- dass das Kind, auf Grund fehlender sexueller Befriedigung des Täters mit seiner Partnerin, als Ersatz für die unbefriedigten sexuellen Bedürfnisse des Täters dient;
- die Suggestion gegenüber jüngeren Kindern, das Missbrauchsverhalten stelle quasi den Normalfall väterlicher Annäherungsformen dar (Peters/Bongerts aaO. S. 48) – ein einfacher Zugangsweg zum leicht erreichbaren Opfer.
Weder das eine noch das andere hat einen spezifisch homoerotischen Bezug. Es fragt sich dann, weshalb Kutschera diese Problematik gerade hier hochwirft. Mit Rücksicht darauf, dass aus gleichgeschlechtlichen Paarungen keine Nachkommen hervorgehen können, bei heterosexuellen aber sehr wohl, wären einige andere Lebensformen viel stärker als bedenklich anzusehen – besteht doch nur bei diesen die Gefahr der Verengung der genetischen Materialauswahl und die Sorge um die genetische Hygiene. Viel dringlicher müsste dann folgendes erledigt werden:
- die Abschaffung des Adoptions- und Kindschaftspflegerechts
- das Verbot der Erst- und Wiederverheiratung alleinerziehender Eltern
- das Verbot jeglicher Lebensgemeinschaften mit anderen als den leiblichen Eltern
- und damit das Verbot jeglicher Formen von „Patchwork“-Familien.
In allen diesen Fällen steht der „Stiefvater-Effekt“ als drohendes Szenario im Hintergrund – ohne an die 5 % Anteil homosexueller Individuen in der Gesamtpopulation auch nur zu denken.
6.
Fazit:
Kutscheras Ankündigung „biowissenschaftlicher Fakten“ ist zu einem beträchtlichen Teil ein Etikettenschwindel. Seine Argumentation lässt dafür umso mehr gesellschaftspolitische Vorverständnisse erkennen, und selbst um deren Faktenlage ist es nicht gut bestellt. Dort, wo er biologische Anknüpfungspunkte tatsächlich aufgreift, ist kaum erkennbar, wie sie seine Folgerungen und Positionen stützen sollen. Wer tatsächlich auf ein naturwissenschaftlich hergeleitetes und schlüssig zu Ende gedachtes Argument wartete, muss sich weiter gedulden. Dafür ist die Debatte nun um einige neue Kampfbegriffe erweitert, von der Bevölkerung als Fortpflanzungsgemeinschaft bis zum Stiefvatereffekt.
Wenn Kutschera einfach der Meinung sein sollte, dass sich eine Ehe unter gleichgeschlechtlichen Partnern nicht gehöre, wenn ihm die ganze Richtung nicht passen sollte, dann sollte er das ganz einfach so sagen. Auch wenn seinen zahlreichen Gegnern das nicht gefallen sollte: der darf das. Nur eines sollte er nicht tun: seine Sittenbegriffe als „biowissenschaftliche Fakten“ ausgeben, denn das sind sie nicht.