Eine Empfehlung für einen Vortrag von Gerd Gigerenzer, den er am 2.7.2007 beim Chirurgie-Symposium hielt.
Illusion der Gewissheit
betitelt Gigerenzer seinen Vortrag, und er beginnt mit einem Zitat von H.G. Wells:
Wenn wir mündige Bürger in einer modernen, technologischen Welt möchten, dann müssen wir ihnen drei Dinge beibringen: lesen, schreiben und statistisches Denken.
Dass gerade letzteres, der Mangel an “statistischem Denken”, ein Metakonflikt in der Auseinandersetzung mit Pseudomedizin und Quacksalberei bei uns ist, wird den regelmäßigen Leser hier nicht überraschen.
Überraschend ist aber, dass Gigerenzer diesen Mangel gerade bei Medizinern anprangert, die es eigentlich besser wissen müssten, sind doch gerade in der Medizin Entscheidungsfindungen idealerweise sehr stark an diese Fähigkeit gekoppelt, mit Unsicherheiten und Risiken vernünftig umzugehen. Und mangelt es an dieser Fähigkeit, kann man bei Patienten sehr viel Schaden anrichten.
Der Vortrag beginnt mit gar lustig banalen Beispielen:
Ein Wettermann sagt, dass es am Samstag und Sonntag zu jeweils 50% regnen wird, also sei die Wahrscheinlichkeit, dass es am Wochenende regne, 100%. Man lacht darüber. Aber wer weiß eigentlich, warum? Wir empfinden bei dem Beispiel intuitiv, dass diese Aussage Unsinn ist. Das Problem ist nur: Dieser Unsinn pflanzt sich fort in Bereiche, die wesentlich gravierender sind und in denen der Unsinn als solcher nicht mehr wahrgenommen wird.
So ist es z.B. erschütternd, dass manche Ärzte keine Ahnung haben, was es bedeutet, wenn ein Patient (keine Risikogruppe) erstmalig positiv auf HIV getestet wird. Der Test ist zu 99,9% sicher. Wie hoch ist nun die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich mit HIV infiziert zu sein? Viele Berater und Ärzte meinen, das sei so gut wie 100% sicher. Zu solchen Aussagen kommt man, wenn man von Statistik wenig Ahnung hat, nicht unbedingt weiß, was Prävalenz bedeutet, aber vor allem auf die Form der bedingten Wahrscheinlichkeit hereinfällt und die natürlichen Häufigkeiten vergisst. Tatsächlich bedeutet ein solches Ergebnis grob, dass die Wahrscheinlichkeit ca. 50% ist. Welches Leid mit solchen Fehlinterpretationen angerichtet werden kann, mag sich jeder selber vorstellen.
Um hier bösen Kommentaren zuvorzukommen: Viele Ärzte wissen das. Aber nach den Umfragen eben zu viele auch nicht. Es ist dieses unglaubliche Defizit, das angeprangert wird, denn es bedarf keiner intellektuellen Höchstleistung, um “statistisches Denken” zu verinnerlichen; wer lesen und schreiben kann, kann auch dieses, es wird nur viel zu wenig gelehrt, es wird die elementare Wichtigkeit verkannt. Zu einer realistischen Entscheidungsfindung in einer sehr komplexen Welt ist dies aber unabdingbar.
“Man sieht nicht die Wette, die unser Hirn bei der Wahrnehmung eingeht, wir halten es für Gewissheit”, sagt Gigerenzer sinngemäß. Diese Tatsache ist bei den Themen und Diskussionen bei Psiram Alltag, und es ist schwierig bis unmöglich, z.B. einem überzeugten Homöopathen zu erklären, dass genau da sein Problem liegt.
Unser menschliches Hirn hängt in einem Dilemma fest. Einerseits bedarf es manchmal schneller Entscheidungen, bei denen gedankliche Schleichwege und Abkürzungen, die sogenannte Denkökonomie (man kann auch Vorurteile dazu sagen) lebenswichtig sind, um nicht ins Gegenteil der Endlosschleife des Hinterfragens zu verfallen, was zu einer Handlungsunfähigkeit führen würde. Wie in den griechischen Sagen ist das der Weg zwischen Skylla und Charybdis, man muss sich der jeweiligen Situation anpassen. “Statistisches Denken” ist ein Werkzeug, dass uns in dieser schwierigen Navigation hilft.
Aber Gigerenzer kann das viel besser zeigen, deshalb ja hier die Empfehlung, sich diesen Vortrag anzuschauen – er ist auch für Leute interessant, denen die Problematik an sich bekannt ist. Dauert ca. 50. min.
Hier nochmal der Link.