Quantcast
Channel: Psiram Blog
Viewing all 588 articles
Browse latest View live

Die Vernichtung von Mariupol

$
0
0

Das Folgende ist eine gekürzte, unkorrigierte Google-Übersetzung aus dem Ukrainischen einer Veröffentlichung der Ukrainska Pravda von heute früh.
https://www.pravda.com.ua/news/2022/03/15/7331396/

Ein Berater des Bürgermeisters von Mariupol sagt, 20.000 Zivilisten seien in der Stadt gestorben


Manche werden beerdigt, manche liegen in den Höfen, auf den Straßen. Aufgrund der Intensität des Beschusses können die Menschen nicht einmal nach draußen gehen, um ihre Lieben zu begraben. Kommunale Dienstleistungen funktionieren nicht, der Friedhof – in dem von der russischen Armee kontrollierten Gebiet. Der Tod ist überall, er ist sichtbar.“

Aber wenn dies in den kommenden Tagen nicht geschieht, wird die Zahl auf 350.000 zugehen – all diejenigen, die keine Zeit hatten, zu gehen.

Manche werden beerdigt, manche liegen in den Höfen, auf den Straßen. Aufgrund der Intensität des Beschusses können die Menschen nicht einmal nach draußen gehen, um ihre Lieben zu begraben. Kommunale Dienstleistungen funktionieren nicht, der Friedhof – in dem von der russischen Armee kontrollierten Gebiet. Der Tod ist überall, er ist sichtbar.“

Details: Ihm zufolge fahren Menschen, die die Stadt auf einer zuvor vereinbarten Route mit dem Privatauto verlassen, auf eigene Gefahr, da es keine Garantien der russischen Armee gibt.

In der Nähe von Berdjansk blockieren die Russen jedoch etwa 35 Busse, neun Lastwagen mit Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten für die Bewohner von Mariupol.

Andryushchenko sagte auch, dass die Bombardierung in der Stadt fortgesetzt wird.

Ihm zufolge hatte die Stadt zum Zeitpunkt der Blockade etwa 350.000 Einwohner.

Direkte Ansprache: „Die Menschen in der Stadt leben in Kellern, Notunterkünften, die sind natürlich alle überfüllt. Die Bedingungen sind menschenunwürdig. Keine Nahrung, kein Wasser, kein Licht, keine Heizung. Wir haben Heizungsanlagen und Heizungsleitungen abgebaut – Trinkwasser abgelassen.“ .

Die letzte Wasserquelle ist vor ein paar Tagen versiegt. Eine zentrale Wasserversorgung wurde durch ständigen Beschuss und Bombenangriffe unmöglich. Lebensmittel – es gab eine Werkstatt, in der es mehr oder weniger Vorräte gab, die wurde vorgestern gezielt zerstört.

Details: Er fügte hinzu, dass bereits 80 % des Wohnungsbestands in der Stadt unbewohnbar seien, von denen mindestens 80 % nicht wiederhergestellt würden.

Direkte Rede: „Mariupol hat in den letzten acht Jahren eine besondere Rolle gespielt – es ist die letzte größte Stadt in der Region Donezk, die diese Bananenrepubliken nicht akzeptiert hat und die russische Besatzung nicht akzeptiert hat. Und seit acht Jahren demonstriert, dass eine solche Stadtfront, wie sie wiedergeboren und zu einer europäischen Stadt werden kann, und wollen nun zeigen, was passiert, wenn jemand die „russische Maßnahme“ und ihre Bedingungen nicht akzeptiert.

Alles deutet darauf hin, dass Menschen absichtlich in der Stadt eingesperrt wurden und vernichtet werden.“


Die Freie-Energie-Verschwörung – eine Spurensuche

$
0
0

Öl und Gas werden immer teurer, Photovoltaik kommt aus China, Atome im Strom sind weltweit gefürchtet und Windräder verstellen die freie Sicht auf das nächste Kohlekraftwerk. Es ist kompliziert mit der Energieversorgung. Dabei gibt es doch, so hört man, längst die endgültige, perfekte Lösung – emissionsfrei, kostenlos und überall verfügbar: Freie Energie!

Nein, nicht das langweilige Helmholtz-Potential aus der Mainstream-Schulphysik. Das verfügt nicht über die notwendigen Fähigkeiten.

Ein System, dessen Temperatur und Volumen konstant gehalten werden, nimmt von allen erreichbaren Zuständen mit dieser Temperatur und diesem Volumen denjenigen als Gleichgewichtszustand ein, in dem die freie Energie den kleinstmöglichen Wert hat.

Was wir brauchen, ist eine alternative „Freie Energie“, mehr so ganzheitlich und sanft und sauber, wie in Esotopia.

Aber leider, so haben wir erfahren, wird diese seit Urzeiten von geldgierigen Mächten unterdrückt. Alles könnte schön sein, aber ein paar hinterhältige Eliten wollen uns unbedingt weiter ihre schmutzigen Brennstoffe verkaufen. Also machen wir uns auf die Suche, wann und wo diese Wunderkraftquelle aus dem Universum in den Tresoren der Energiemafia verschwunden ist.

Am besten beginnen wir damit auf Twitter. Denn nur dort findet man die Wahrheit. Experten vieler Fachrichtungen mit solider akademischer Ausbildung und jahrzehntelanger Erfahrung wurden dort schon eines Besseren belehrt, gewöhnlich von Accounts mit einer Handvoll Followern, die jedoch zu jedem Thema eine profunde, gefühlsbasierte Meinung zum Besten geben können.

Seit wann also wird die Freie Energie nun unterdrückt? Erste Hinweise deuten darauf hin, dass unsere mittelpaläolithischen Verwandten, die Neandertaler, schon vor hunderttausend Jahren ihre Mammutkeulen auf kostenfrei betriebenen Elektrogrills rösteten, wenn sie erschöpft ihr Tagewerk auf den Pyramidenbaustellen vollendet hatten. Nicht einmal der schreibende Kellner aus der Schweiz hat bisher darüber berichtet.

Vielleicht ist die „Freie Energie“ aber auch etwas jünger. Jenny weiß, dass es sie zumindest vor 300 Jahren schon gab.

Das war etwa zur Zeit der Erfindung der Dampfmaschine. Waren Thomas Newcomen und James Watt möglicherweise nicht in dieses Geheimnis eingeweiht und mussten ihre Apparaturen deshalb mit teurer Kohle befeuern? Oder wussten sie gar Bescheid, hielten die Menschheit aber noch nicht für reif genug, um mit dieser kosmischen Macht verantwortungsvoll umgehen zu können?

Ebenfalls denkbar ist, dass sie einfach zu früh dran waren und deshalb nicht das nur in Geheimzirkeln bekannte Youtube-Video anschauen konnten, das alles genau erklärt.

Vielleicht ist die Entdeckung der „Freien Energie“ aber auch nur etwas über 100 Jahre her. Der Benz-Motorwagen hatte zu dieser Zeit schon ein paar Landmeilen auf dem Tacho und musste immer noch mit Benzin aus der Apotheke befüllt werden. Dabei wäre es doch viel einfacher gegangen, vielleicht mit einer Antenne, die kosmische Strahlung einfängt und damit einen Elektromotor antreibt. Wurde die „Freie Energie“ ein Opfer der gerade erstarkenden Pharmamafia?

Vladimir hat mit Numerologie herausgefunden, wer in jenen industriell turbulenten Jahren als Urvater der Freie-Energie-Forschung den Grundstein für diese Technologie gelegt hat:

Quelle: https://twitter.com/psychosekte/status/1449389158217273350

Überhaupt war Viktor Tesla – oder war es Nikola Schauberger? – sehr fleißig.

Immerhin hat er zeit seines aktiven Erfinder-Lebens zwischen 3001 und 5999 Patente angemeldet.

Das wären also mehrere Patente pro Woche. Alleine die Schreibarbeit dafür ist nicht zu unterschätzen.

Was wurde denn nun aus den vielen erteilten Schutzrechten?

Sie werden irgendwo, von irgendwem an einem geheimen Ort vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen. Der ganze, riesige Stapel. Zwar weiß niemand, welche Patente das sind, welche Nummern sie haben, wo sie liegen, wer sie bewacht und was drinsteht, aber dass sie unter Verschluss gehalten werden, da sind sich alle einig.

Um sie zu befreien, müssen allerdings zuerst alle kriminellen Politiker verhaftet werden.

Wer kommt denn da noch in Frage? Anständige Demokraten schon mal nicht.

Dann bleibt folgerichtig nur ein „lupenreiner Demokrat“ übrig, und der steht bei den Wahrheitssuchenden gerade ganz hoch im Kurs.

Bevor wir unsere Detektivarbeit fortsetzen, sollten wir allerdings erst herausfinden, ob diese „Freie Energie“ überhaupt existiert oder ob sie nur ein Mythos ist.

Auch in den unterirdischen Städten, wo das Adrenochrom in Strömen fließt, wird längst zum Nulltarif geheizt.

Gut, dass wir das geklärt haben. Nun gilt es also noch herauszufinden, wer uns die „Freie Energie“ vorenthält.

Klarer Fall, es sind die Satanisten.

Oder steckt mal wieder Greta dahinter, die ja sowieso gegen alles ist, was Spaß macht?

Ist es gar der notorische Spielverderber und Elitenknecht Harald Lesch?

Kann uns Elon Musk retten, der den Namen seiner Firma sicher nicht zufällig gewählt hat? Oder ist auch er Teil der Verschwörung? Immerhin lässt er ja trotz allen Wissens um die „Freie Energie“ weiterhin aufladbare Batterien in die allseits beliebten Elektroautos einbauen.

Wozu benötigen wir diese „Freie Energie“ überhaupt und was kann man damit alles anstellen?

Auf jeden Fall bräuchten wir nie mehr zu arbeiten, könnten jeden Tag ausschlafen und das mit dem Essen kaufen hätte sich auch erledigt. Wir könnten uns also endlich den Weg zu Aldi und Rewe sparen.

Ein Schutzschild gegen die Vogonen wäre natürlich auch wünschenswert.

Selbst das Problem mit der Überbevölkerung ließe sich damit lösen.

Diese „Freie Energie“ ist also ohne Zweifel ungemein nützlich, das wissen wir jetzt. Aber warum wird sie dann seit hundert oder hunderttausend Jahren unterdrückt? Gibt es dafür eine plausible Erklärung?

Die Großkonzerne mit ihrer Geldgier haben etwas dagegen, der „Kalpitalismus“ auch und die Zeitungen bekämen keine Zuwendungen mehr, wenn sie darüber schrieben. Das sind selbstverständlich triftige Gründe, dieses Geheimwissen weiterhin geheim sein zu lassen.

Leider kann man mit „Freier Energie“ nur genau ein Mal Geld verdienen, während herkömmliche Energie einfach immer im Kreis gepumpt wird und ständig Gewinne abwirft. Und auf diese würde natürlich kein Kapitalist, der etwas auf sich hält, verzichten wollen.

So langsam sollten wir aber zum Ende kommen und eine Lösung erarbeiten, denn so kann es ja nicht weitergehen.

Hey, wie wäre es denn, wenn wir uns einfach selbst so eine „Freie Energie“-Maschine basteln? Heimwerken für den Weltfrieden!

Ein paar Magnete und Frequenzen, mehr braucht es dazu nicht. Geniale Lösungen sind immer einfach.

Am besten fragen wir Prof. Claus Wilhelm Turtur, der weiß, wie das geht.

Wer den Aufwand nicht scheut, kann sich natürlich auch einfach ein Auftriebskraftwerk bauen.

Aber wenn das so einfach ist, kann man solch ein Gerät dann nicht längst beim Freie-Energie-Fachhändler des Vertrauens erwerben? Natürlich, sogar schon seit 2014.

Da wäre es doch wirklich sehr dumm, nicht sofort zuzuschlagen. Sicher handelt es sich dabei um äußerst seriöse Angebote.

Wichtig ist einfach, dass wir dazu innerlich bereit sind und uns alle ganz doll lieb haben.

Richtig denken ist auch unverzichtbar. Sonst kann es nicht funktionieren.

 

Es wird also alles gut. Wir können bald so viel Energie verbrauchen, bis sich ein wohliges Völlegefühl einstellt, benötigen kein Geld und keine Regierungen und niemand wird mehr gewzungen sein, ein Nachbarland zu überfallen, um dort nach Öl zu suchen. Wenn da bloß nicht diese ständige Ungeduld wäre. Wann ist es denn nun endlich so weit? Schließlich warten wir schon eine Ewigkeit auf die „Freie Energie“, die immer kurz vor dem Durchbruch steht.

Keine Sorge. Sobald wir nicht mehr zum PCR-Test müssen, geht es los.

Alles läuft nach Plan.

 

Mehr zum Thema:

Polywasser reloaded – Wie hexagonales Wasser der Homöopathie erneut feuchte Augen macht

$
0
0

Die Esoterik sucht ständig nach wissenschaftlichen Belegen für ihre abwegigen Konstrukte. Insbesondere die Homöopathie will – obwohl man sich gerne als etwas nicht Erfassbares, Wundersames verkauft – auch eine wissenschaftliche Begründbarkeit vortäuschen. Auch andere alternativweltliche Produktzweige, wie etwa der Wasserschwurbel (dessen prominentester Vertreter das Grander-Wasser sein dürfte) wollen das. Es geht darum, auch nicht ganz so Leicht- bzw. Esoterikgläubige von einer objektiv feststellbaren Wirksamkeit zu überzeugen. Man freut sich gerade in diesen Kreisen besonders, wenn es Neuigkeiten aus der Wissenschaft zu geben scheint, man hätte vollkommen unbekannte Eigenschaften entdeckt, die die Wirksamkeit ihrer Produkte endlich belegen könnte. Wasser spielt dabei eine ganz besondere Rolle, da sowohl Homöopathen als auch Wasserschwurbler ein Wassergedächtnis als ein zentrales Element ihrer Lehre annehmen. So etwas könne es nur geben, wenn das Wasser (im flüssigen Zustand) eine feste Struktur annimmt, die dann – wie auch immer – (heilsame) Informationen speichert.

Beständige Strukturen des Wasser, in denen die Wassermoleküle dauerhaft eine bestimmte Anordnung einnehmen, sind für flüssiges Wasser unbekannt und unwahrscheinlich. Man weiß, dass sich solche Verbindungen (Wassercluster) sehr schnell bilden und genauso schnell wieder zerfallen, im Pikosekundenbereich (10 hoch -12 Sekunden). Es gab und gibt allerdings gelegentlich Berichte aus der Welt der Forschung, dass es auch anders zu sein scheint. Wasser, das sich unter bestimmten Bedingungen in stabiler wabenförmiger (hexagonaler) Anordnung bilden soll, wurde scheinbar zuletzt 1961 entdeckt und ca. 10 Jahre später auf die Müllhalde menschlicher Fehlleistung verfrachtet. Die Idee wurde allerdings in den 2000er Jahren wieder belebt, als man es erneut entdeckt haben wollte. Zwischen den beiden „Entdeckungen“ gibt es erstaunliche Parallelen.

Polywasser, die Erste!

Man schrieb das Jahr 1962, tief in der russischen Provinz machte ein Wissenschaftler namens Nikolai Fedyakin eine Entdeckung, die in den kommenden Jahren immer weitere internationale Aufmerksamkeit bekommen sollte. Hatte er Wasser in haarfeinen Kapillarröhrchen kondensiert, diese verschlossen und ein paar Wochen aufbewahrt, sammelte sich das Wasser in zwei voneinander getrennten Schichten am Boden dieser Röhrchen. Es konnte sich aber nur um Wasser handeln, da sonst keine andere Substanz in die Röhrchen gelangt sein konnte. Also musste es sich um eine eine andere, neue Art von Wasser handeln, die sich im unteren Teil gesammelt hatte. Dieses war dichter und somit schwerer als das darüber befindliche Wasser. Die Kunde erreichte bald Moskau und wurde angesichts ihrer vermuteten Bedeutsamkeit von einem führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Physikalischen Chemie aufgegriffen: Boris Deryagin nahm sich der Sache an, witterte bald nobelpreisverdächtige Erkenntnisse und verkündete die Entdeckung auf einer Konferenz in London der westlichen Welt.

Bald darauf wurde man auch in Amerika aktiv, wollte man doch nach dem Sputnikschock keine weitere Blamage erleiden. Man kann bis hier noch argumentieren, die angebliche Neuentdeckung sei aufgrund unzureichender Messgenauigkeit des damaligen Instrumentariums falsch eingeschätzt worden, aber spätestens mit den Verlautbarungen des amerikanischen Spektroskopen Ellis R. Lippincott und dessen Mitstreitern, man habe anhand von spektroskopischen Daten den neuen Stoff identifiziert und dessen Struktur entschlüsselt, reicht das als Erklärung nicht mehr aus. Von Lippincott stammt der Name Polywasser und dessen vorgeschlagene Struktur: ein hexagonales Molekülgitter, in dem die Wassermoleküle wabenförmig in einer Ebene miteinander verbunden sein sollen. Schon damals wurde das heftig kritisiert: so eine Struktur sei unmöglich unter den von uns bekannten Bedingungen stabil. Erst als der junge Chemiker Dennis Rousseau durch genauere Analysen feststellen konnte, dass die besonderen Eigenschaften des „Polywasser“ auf Spuren von gelösten Mineralien, die u.a. aus dem Glas der Kapillaren stammten, zurückgehen mussten, verabschiedete man sich von der Vorstellung, eine neue Modifikation des Wassers entdeckt zu haben.

Natürlich war man in der pseudowissenschaftlichen Abteilung des Erkenntnisforschung wenig begeistert von der Abkehr. Homöopathen mussten sich weiter vertrösten, einen Beleg für ihren Informationsquatsch gefunden zu haben – und Apokalyptiker, die im Polywasser das Ende der Welt kommen sahen (man nahm an, das Polywasser wäre die stabilere Form des Wassers und jede Freisetzung davon würde die Welt in einen riesigen Kristall verwandeln), mussten die Apokalypse mal wieder verschieben. Aber die Idee war in der Welt und es war und ist zu verlockend, diese weiter am Leben zu halten. Für die besagten Pseudowissenschaftler zumindest.

Hexagonales Wasser, mal wieder

2004 erschien dann die englische Ausgabe eines Buches des Koreaners Mu Shik Jhon; übersetzt durch die Amerikanerin MJ Pangman, die es im Auftrag eines Herstellers von Geräten zur Erzeugung sog. Hexagonalen Wasser übersetzt hatte. Es ist nicht klar belegt, dass es ursprünglich tatsächlich von Jhon stammt, da dieser im gleichen Jahr verstorben ist und man ansonsten nur seriöse Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften von ihm findet. Er will erkannt haben, dass sich im Wasser stabile Cluster aus fünf- und sechseckigen Ringen bilden und dass diese Ringe unter bestimmten Bedingungen unterschiedliche Anteile am Wasser haben sollen. Daneben verkündet er im allgemeinen Teil des Buches, eine der Anomalien des Wassers wäre dessen Gedächtnis. Er erklärt, dass es bald möglich sein werde, Wassermoleküle gezielt zu verknüpfen, sogar Fasern ließen sich somit herstellen und baldigst könnte man Textilien, die nur aus Wasser bestehen, kaufen. Eine (Wasser-)Hose aus Polymerwasser ist bisher leider noch nicht im Handel. Von dem Buch gibt es mittlerweile auch eine deutsche Übersetzung („Hexagonales Wasser – Der Schlüssel zur Gesundheit“) im esoterischen Mosquito Verlag. Da ist es auch gut aufgehoben, da es sich um pure Pseudowissenschaft handelt. Es werden zwar Anleihen an wissenschaftliche Methoden gemacht, aber diese sind rein anekdotenhaft und kaum prüfbar. Die hexagonale Struktur ist natürlich wieder ein Quell der Lebenskraft und Gesundheit und es gilt, möglichst viel davon aufzunehmen. Passend dazu gibt uns das Buch auch Hinweise, wie man solches Wasser, das reich an guten hexagonal, aber arm an pentagonal (dem schlechten Gegenspieler) strukturiertem Wasser, erzeugen kann. Wer hatte gleich nochmal die Übersetzung des Buches in Auftrag gegeben!?

Datei:Waterrings jhon.jpg

Hexagonales Wasser, ob auf den kruden Ideen Jhon basierend oder nicht, ist ein verbreiteter Begriff im Wasserschwurbel. Jhon hatte angedeutet, wo man dieses finden und wie dieses Wasser erzeugt werden könne. Wasser aus Gletschern wäre reich daran, bestimmte Mineralien hätten förderliche Wirkungen und es gäbe eine energetische Möglichkeit, die Bildung hexagonaler Cluster im Wasser zu fördern: u.a. mit Magnetfeldern. Diese Erkenntnisse freuen vor allem Hersteller und Vertreiber von solchem Wasser bzw. von Geräten, mit denen man dieses herstellen können soll. Magnete und Verwirbler (Schauberger lässt grüßen) gehen mit ein bisschen pseudowissenschaftlichen Hintergrund scheinbar leichter über den Tresen. Außerhalb der esoterischen Blase hat sich dieses „Konzept“ von hexagonal strukturiertem Wasser allerdings wenig durchgesetzt, es ist zu abstrus und auch der scheinbar wissenschaftliche Anspruch ist mager. Eine Wasserstruktur und damit ein Wassergedächtnis ist damit nicht wirklich gut plausibel zu machen. Man beruft sich neuerdings auf eine anderen, scheinbar belastbareren Wissenschaftler, der das Thema neu belebt hat: Gerald Pollack.

EZ-Wasser, das wahrscheinlich nicht Letzte

Dieser hatte erkannt haben wollen, dass sich Wasser an hydrophilen (wasserbindenden) Oberflächen neu strukturiert und dann vollkommen neue Eigenschaften aufweisen soll. Eine Beobachtung war, dass sich – im Wasser feinst verteilte – Kunststoffteilchen von solchen Oberflächen weg bewegten und es somit zu einer Ausschlusszone, in der das Wasser frei von Partikeln ist, kommt. Das Wasser in der Ausschlusszone nennt er EZ-Water (Exclusion Zone = Ausschlusszone). Das Phänomen ist bekannt, kommt auch mit anderen Lösemitteln und sogar an Metalloberflächen vor. Das, was Pollack allerdings daraus gedeutet hat, stellt selbst die seltsamen Ansichten von Jhon in den Schatten. Er meint, das Wasser in der Ausschlusszone hätte eine halbkristalline Struktur und wäre ein Zustand zwischen fest und flüssig, weshalb er es auch eine neue Phase (neben fest, flüssig und gasförmig) deutet. Die Wassermoleküle wären – wer hätte es gedacht – wabenförmig (hexagonal) in Schichten angeordnet. Dabei käme es zu echten Molekülbindungen, in den der Wasserstoff dreibindig wäre (ansonsten ist nur bekannt, dass Wasserstoff einbindig ist und das sich unter den Wassermolekülen nur Wasserstoffbrücken, keine echten Atombindungen, bilden). Es ist aber noch abstruser: Das Wasser hätte die Summenformel H3O2, wäre negativ geladen, hätte eine höhere Dichte und andere Schmelz- und Siedepunkte. Natürlich könnte das Wasser, da es ja strukturiert sei, auch Informationen speichern. In einem Video bei Arte (jederzeit offen für Schwurbel) vergleicht er es mit einem USB-Stick, den er aus der Tasche zückt. So abstrus das erscheint und so wenig, wie das durch valide wissenschaftliche Methoden belegt ist, es wird trotzdem für eine mögliche Neuentdeckung gehalten. Beinahe wie das Polywasser.

Pollack geniest ein wenig an Renommee, er ist noch aktiv in der Forschung und betreibt ein eigenes Wasserlabor an der Universität von Washington in Seattle. Er konnte mehrere Artikel in seriösen (Peer-reviewten) Zeitschriften veröffentlichen. Auch in der „Zeit“ konnte man nicht wirklich bewerten, ob das nun Unsinn oder Genialität ist. Zudem bekam er eine üppige Förderung für seine Forschungen, die es ihm ermöglicht, weiter daran zu spinnen. Daneben ruft er auf der Webseite seines Labors zu Geldspenden auf. Er tritt auf Konferenzen homöopathieaffiner englischer Lords – neben abgedrifteten Nobelpreisträgern – auf und darf dort seine Erkenntnisse verkünden, die man ihm dort gerne abkauft. Ebenso hat er auch der Firma Grander einen Besuch abgestattet, weshalb sie auch mit ihm werben darf. Mittlerweile hat er ein eigenes Spin-Off gegründet, das Produkte zur Erzeugung von EZ-Wasser herstellen will. Er rühmt sich damit, 2014 den Dinsdale Preis (den bekommen diejenigen, die Existenz von Nessie plausibler machen können) und den ersten „Emoto Friedens Preis“ bekommen zu haben. Fehlt nur noch der Nobelpreis.

Obwohl er von Hause aus Elektroingenieur ist, beschäftigt er sich auch mit biologischen Systemen. Auch dazu hat er ein 2001 Buch veröffentlicht, das natürlich mit allen Konventionen bricht, d.h. er wirft grundlegende Erkenntnisse der Biologie über Bord und schwurbelt eine neue Biologie zusammen. Ein „gelartiger“ Zustand sei für das Funktionieren des Stoffwechsels in Zellen verantwortlich, Zellmembranen wären überflüssig (da die Zelle nach Punktation problemlos weiterlebt) und Ionenkanäle nur Zierwerk. Das Buch, das vor seinem Wasserbuch erschien, deutet schon an, dass er einer „besonderen Phase“ des Wassers auf der Spur zu seien scheint. Das Buch „The Fourth Phase of Water“ hat er 2013 im gleichen Eigenverlag veröffentlicht. Er fährt zweigleisig: einerseits werden seine Studien überwiegend in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, der er selbst vorsitzt (Chief Editor), die aber kaum wahrgenommen wird (Impact < Gefrierpunkt) und offen für pseudowissenschaftlichen Unsinn ist, veröffentlicht. Andererseits wird dann ungebremst in seinen Büchern geschwurbelt, die ja glücklicherweise keine wissenschaftliche Begutachtung vor Veröffentlichung ertragen müssen.

Das Problem mit der Wirklichkeit

Es gibt nur wenige kritische Reaktionen zu seinen Arbeiten, vornehmlich dann, wenn er in renommierteren Journals veröffentlicht hat. Bemerkenswert und besonders hervorzuheben ist ein Review zu seinem EZ-Wasser, das 2020 erschien und von einem jungen Physikochemiker (wie beim Polywasser) aus eigenen Mitteln finanziert wurde*. Es fasst nicht nur die gröbsten Fehlleistungen Pollacks und deren Widerlegung zusammen, es beschreibt auch ein Experiment, mit dem sich die zentrale These zum EZ-Wasser entkräften lässt. Das Wasser in der Ausschlusszone kommt nur in einer sehr dünnen Schicht an der Grenzfläche zwischen Membran und Wasser vor, ist dementsprechend nur schwer zu spezifizieren (was einer der Gründe sein mag, warum Pollack zu seinen speziellen Ergebnissen kommt). Nun behauptet Pollack, sein neu entdecktes Wasser hätte eine höhere Dichte. Man würde auf jeden Fall eine andere Dichte als gewöhnliches Wasser erwarten, da die Moleküle ja kristallartig angeordnet sein sollen. Nur hat eine sehr spezifische Analyse mittels Neutronenstrahlung (Neutronenradiographie), mit der man Dichteunterschiede sehr genau bestimmen kann, gezeigt, dass zwischen Wasser in der Ausschlusszone und außerhalb kein Unterschied besteht.

Man darf gespannt sein, ob sich Pollack, wie seinerzeit Deryakin beim Polywasser, auch von der Idee, einen neuen Zustand des Wassers entdeckt zu haben, verabschieden wird. Es ist aber unwahrscheinlich: Pollack ist zu tief im pseudowissenschaftlichen Unsinn verhaftet. Totzukriegen ist die Vorstellung von einem Wasser, das strukturiert ist, wahrscheinlich auch nicht. Wer nach dem Begriff „EZ-Wasser“ googelt, der findet vornehmlich Inhalte, die mit einem wirtschaftlichen Interesse an so einer Vorstellung verbunden sind. Das sind neben den Homöopathen auch die Verticker unnötiger Nahrungsergänzungsmittel. Das hippe Berliner Unternehmen Braineffect (bekannt aus der „Höhle des Löwen“), das sich bei Google eine Topplatzierung zum Thema gesichert hat, macht das, was viele andere auch tun: man vermengt den ganzen Unsinn vom Polywasser, hexagonalem Wasser und EZ-Wasser zu einem wissenschaftliche klingenden Mix, der nur der Vermarktung eigener Produkte dient. Es gibt immer einen Grund, warum auch der größte wissenschaftliche Unsinn weiter existieren soll.

Zum Thema noch ein schönes Beispiel, wie man mit dem Schwurbel umgeht und damit unterhalten kann. Leider wieder nur in englisch (deutsche Untertitel können aber zugeschaltet werden).


Professor Dave Explains: Lies People Tell About Water – Part 3: Structured/Hexagonal Water, Water Memory

 


*das Review beruft sich in Teilen auf eine ganz hervorragende Masterarbeit, die an einer australischen Universität entstanden ist. Neben dem EZ-Wasser widmet man sich darin auch dem magnetisierten Wasser. Unvoreingenommen werden die Behauptungen  mit modernen chemisch-physikalischen Methoden überprüft. Die Ergebnisse dürften einigen nicht gefallen. Obwohl in englischer Sprache, ist die Arbeit gut verständlich und eine unbedingte Leseempfehlung für das naturwissenschaftlich-skeptisch interessierte Publikum:

Spencer, Peter D. (2018) Examining claims of long-range molecular order in water molecules. Master of Philosophy thesis, Queensland University of Technology.

Neuer Perpetuum-mobile-Betrug: das ekW.103

$
0
0

Einer der prominentesten gewerbsmäßigen Betrugsfälle der letzten Jahre war bekanntlich der Nürnberger GFE-Skandal, der bei gutgläubigen Investoren einen Schaden von rund 50 Millionen Euro hinterließ. Einige der Täter – darunter auch Reichsbürger – wanderten ins Gefängnis. Betrogen wurde mit technisch unmöglichen Pflanzenöl-Motoren auf Kredit bei Tilgungen, die unter den versprochenen Renditen lagen. Eine Art finanzielles Paradies nach dem Schneeballsystem, das nur platzen konnte.

Das Scharlatanerieprodukt Kinetic Power Plant (Auftriebskraftwerk) der Firma Rosch sollte vor ein paar Jahren auf physikalisch unmögliche Weise Strom aus der Erdanziehung (Gravitation) gewinnen, ohne herkömmlichen Treibstoff. Schon in seiner ersten Version von Robert Schrade, die nach dem Prinzip des hydrostatischen Paradoxons arbeiten sollte, konnte dieses Perpetuum mobile natürlich nicht funktionieren, doch auch hier fielen Investoren darauf herein.

Nun sind uns über einen Tipp Dokumente zu einer Art Wiederauferstehung dieses „Auftriebskraftwerks“ in die Hände gelangt. Diesmal unter dem Namen ekW.103, verbreitet von einer kleinen Clique, die sich über das Empfehlungsnetzwerk BNI zu kennen scheint.

Mit am aktivsten dabei ist die niedersächsische „Sachwertmaklerin“ und Wirtschaftsberaterin Antje Hagedorn-Bergmann aus Vechelde. Die ekW.xxx-Reihe war zuvor (seit ca. 2013) schon von der inzwischen aufgelösten Firma Eurosch von Robert Schrade bekannt. Und von Eurosch stammen auch viele der Bilder, die von Antje und ihren Freunden zur Werbung genutzt werden.

Das beste ist aber: Glaubt man der geschäftstüchtigen Beraterin, so möchte sie den GFE-Skandal noch in den Schatten stellen. Denn sie will laut ihrem Facebook-Profil bereits 400 mal die nutzlosen ekW.103-„Blubberle“ vermittelt haben, was der Summe von 400 x 2,1 Millionen € entspricht, also 840 Millionen €. Das wäre dann das 16-fache.

Also passt immer schön auf, wenn ihr etwas von einem ekW.103 hört, übrigens benannt nach dem Eurosch Kraft-Werk.

Aufgestellt werden sollen diese Wundergeräte in verschiedenen „Energieparks“, unter anderem in Börßum und Thale. Diese Parks existieren allerdings erwartungsgemäß nicht und werden auch zukünftig nicht entstehen. Über den Hersteller der wunderbaren Wassermühlen ist ebenfalls nichts bekannt.

Und nicht wundern: Im öffentlichen Internet findet ihr nichts dazu. So etwas wird vertraulich verbreitet und beworben, und man weiß warum. Das soll sich nun ändern.

Kachelmanns Waldbrände

$
0
0

Es brennt in Deutschland und man sucht die Schuldigen. Kachelmann empört sich über Medienberichte, die Hitze würde die Brände verursachen. Dass hohe Temperaturen ein begünstigender Faktor für eine Brandentstehung sind, ist ziemlich unstrittig. Ob aber alleine durch hohe Temperaturen und eine hohe Einstrahlung von Sonnenlicht tatsächlich ein Brand auslgelöst werden kann, ist sehr umstritten. Man nennt gelegentlich Glasscherben, die als Sammellinsen (Lupeneffekt) für Sonnenlicht dienen, als eine mögliche Ursache. Das gilt aber unter Experten eher als unwahrscheinlich und wird in den Bereich der Mythen eingeordnet. Es gibt auch immer wieder Berichte, alleine die hohen Temperaturen über 30 °C wären in der Lage, brennbares Material zu entzünden, die sogenannte spontane Selbstentzündung. Das Phänomen gibt es (allerdings nicht beim Menschen); ob es allerdings für die Brandentstehung unter realen Umweltbedingungen verantwortlich ist, ist nicht belegt. Es gibt Argumente, die dies nicht nur als wahrscheinlich, sondern als gebotene reale Erscheinung herleiten wollen. Oder handelt es sich um einen Mythos, der aus der biblischen Überzeugung eines brennenden Busches, über den Gott zum Propheten spricht, beruht. Darüber ist im Forum eine Diskussion entstanden, in dem der Yeti, wiederkäuende Hasen und die Fundamente skeptischen Denkens eine Rolle spielen.

Als Beleg für eine sich selbst entzündende Pflanze wird auf einen Wikipediartikel zu einer Pflanze, die umgangssprachlich als Diptam bezeichnet wird, verwiesen. Dort heißt es:

An extrem heißen Tagen können sich die Dämpfe auch selbst entzünden. Erklärt wird dies durch die Brennglaswirkung bei Tröpfchenbildung. In der Dämmerung kann man bei Windstille und großer Hitze an der Pflanze kleine blaue Flammen sehen.

Auffällig ist, das zu der Aussage keine Quelle genannt wird. Zudem ist die Aussage ungenau, was sind denn bitte „extrem heiße Tage“? Es finden sich zu der angeblich selbstentzündlichen Pflanze noch weitere Hinweise auf Wikipedia, hier sogar mit scheinbarem Beleg.

So etwa im Artikel zum Brenndenden Dornbusch

Fragt man die allwissende Suchmaschine nach selbstentzündenden Diptam, so erhält man sehr oft den immer gleichlautenden Hinweis verschiedenster Pflanzenverkäufer:

Ein besonderes Schauspiel lässt sich während der Dämmerung beobachten. Bei großer Hitze und gleichzeitigen Windstillstand lassen sich manches Mal kleine bläuliche Flammen erkennen.

Es gibt keinen Hinweis auf eine seriöse wissenschaftliche Publikation, die die Selbstenzündung am Diptam dokumentiert. Lediglich die Verpuffung an der Pflanze, die man durch eine kleine Flammer erzeugen kann, ist

 

Attemborough-Video:

I knew there had to be a scientifically sound reason to explain the Burning bush from the Bible. Here it is explained by modern science and not magic at all . Plants actually made fire before humans. That’s humbling .

Der gesteigerte Verschwörungswahn eines Waldorf-Lehrers

$
0
0

Gastbeitrag: Wie in Oldenburg Israelhass, Antiamerikanismus, Geschichtsrevisionismus und Corona-Leugnung in einer trüben Melange zusammenfinden.

Lehrer der Waldorfschule Oldenburg verbreitet antisemitische Verschwörungstheorien (Quelle: Gerd Wiechmann / CC BY-SA 4.0)

Markus Fiedler, Biologie- und Musiklehrer an der Waldorfschule Oldenburg, ist als Verschwörungsideologe im Internet und auf Demonstrationen unterwegs. Seine Phantasmagorien erwachsen aus einer Obsession mit dem Internetlexikon Wikipedia, dessen Autoren er eine proamerikanische, proisraelische und gegen Verschwörungstheoretiker gerichtete Schlagseite zuschreibt.

Verschwörungstheoretischer Zirkel

Den Ausgangspunkt dieses Verschwörungswahns bildet eine Fixierung auf die Wikipedia-Seite des Schweizer Waldorfschülers und Verschwörungstheoretikers Daniele Ganser, die Fiedler immer wieder vergeblich zu beschönigen suchte, indem er z.B besagtem Ganser in seinen Internetserie „Geschichten aus Wikihausen“ und seinen abendfüllenden Dokumentarfilmen „Die dunkle Seite der Wikipedia“ (2015) und „Zensur“ (2016) des Öfteren ein Forum bot. Ganser stellt sowohl die islamistische Täterschaft bei 9/11 als auch die Täterschaft von Neonazis bei den Anschlägen auf das Münchner Oktoberfest 1980 in Frage und phantasiert stattdessen über die angebliche Täterschaft westlicher Geheimdienste.

Ohne jede kritische Kommentierung zeigt Fiedler im Film „Zensur“ Ausschnitte aus einer Diskussion Gansers mit dem rechtspopulistischen Journalisten Jürgen Elsässer und dem neonazistischen Chef der Wehrsportgruppe Hoffmann. In seinen beiden ‚Dokumentationsfilmen‘ begann Fiedler mit bis heute fortdauernden Hetzjagden auf proisraelische und proamerikanische Wikipedia-Autoren, die er ihrer Anonymität zu entreißen sucht.

Zu seinen größten Feindbildern erkor er neben den Regierungen der USA und Israels die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Erforschung von Parawissenschaften (GWUP), die Ruhrbarone, die Amadeu-Antonio-Stiftung und die Website Psiram, die über Esoteriker und Verschwörungstheoretiker aufklärt. All diese Gruppen und Blogs subsumiert er gemeinsam mit „den Antideutschen“ unter dem Begriff „Transatlantifa“, die von transatlantischen Think-Tanks stark gemacht worden sei und der gesamten Medienlandschaft ihren Willen aufzwinge.

In diesem Kontext verbreitet Fiedler die Wahnidee, in „transatlantischen Netzwerken wird ausgeklüngelt, wer, wann und wo auf welche Schaltposition kommt.“ Er behauptet, das Internetlexikon Wikipedia und die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland würden von Stellen in den USA und von Transatlantikern, d. h. von Menschen, die an guten und vertrauensvollen Kontakten mit den USA und Israel interessiert sind, unterwandert, wobei er halluziniert, dass dies alleine schon an der „ganz klar transatlantischen Schlagseite in den Medien, dazu zählen auch israelische Themen“ zu erkennen sei. [1] In diesem Zusammenhang bewirbt er auch das Buch des Marburger Verschwörungstheoretikers Hermann Ploppa „Die Macher hinter den Kulissen. Wie transatlantische Netzwerke heimlich die Demokratie unterwandern“ aus dem Jahr 2016. [2]

Dabei bewegt Fiedler sich selbst in einem Netzwerk aus Verschwörungsideologen, die sich immer wieder aufeinander beziehen, einander gegenseitig interviewen und füreinander werben. Dazu zählen der antisemitische Waldorfschüler und aus dem Radio Berlin-Brandenburg (RBB) entlassene Journalist Ken Jebsen und sein Blog KenFM, der frühere ZDF-Grafiker, 9/11-Truther und Betreiber von MainzFreeTV Bodo Schickedanz, der frühere ZDF– und Arte-Journalist und heutige Betreiber von Free21 Dirk Pohlmann, der esoterische Sender Nuoviso.tv, die NachDenkSeiten, der Blog Rubikon mit seinem Betreiber Jens Wernicke und der Verschwörungstheoretiker Ploppa – aktuell allesamt an vorderster Front gegen die Anti-Corona-Maßnahmen tätig.

Gemeinsam ist ihnen neben der Verbreitung von Verschwörungstheorien ihr Hass auf die Regierungen der USA und Israels sowie ihr Geschichtsrevisionismus. Sie verbreiten die Lüge, nicht die Deutschen, sondern die USA seien hauptverantwortlich für den Nationalsozialismus. Kolportiert wird dies u. a. in Ploppas‘ Buch „Hitlers amerikanische Lehrer. Die Eliten der USA als Geburtshelfer der Nazi-Bewegung“ von 2008.

Geschichtsrevisionismus, Antiamerikanismus, …

In seiner Internetserie „Geschichten aus Wikihausen“ machte Fiedler sich mit Neonazis gemein, indem er die Opferzahlen der Bombardierung Dresdens durch die britische Royal Air Force im Februar 1945 auf etwa 200.000 Personen hochphantasiert, obwohl die seriöse Forschung heute von nicht mehr als 25.000 ausgeht. Zudem verharmlost er den Nationalsozialismus und zieht geschichtsrevisionistische Vergleiche.

So lobten Fiedler und sein „Wikihausen“-Kompagnon Pohlmann die Aussage des Kabarettisten Uwe Steimle:„Die USA und Israel zetteln Kriege an und wir müssen den Scheiß bezahlen“, um ihren Zuschauern dann mit zustimmender Kommentierung die unsägliche Aussage Steimles: „Es gab Zeiten, da wurde man wenigstens noch gefragt: Wollt Ihr den totalen Krieg. Und was machen die Amerikaner?“ [3] zu präsentieren. Damit verweisen Fiedler, Pohlmann und Steimle, die sich für friedensbewegt halten, wohlwollend auf die bekannte Frage: „Wollt Ihr den totalen Krieg“ von NS-Propagandaminister Goebbels und dämonisieren im selben Atemzug die Regierungen der USA zu schlimmeren Kriegstreibern als die Nazis.

Die aktuelle Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien stellt Fiedler auf eine Stufe mit der Nazi-Presse und behauptet, dass ein Großteil der heutigen Tageszeitungen zu unerträglichen Hetzblättern geworden sei. Auf sie würden – indem sie „intolerant, dogmatisch, unsachlich, hasserfüllt und einen medialen Vernichtungsfeldzug gegen Andersdenkende führen“ – zumindest teilweise die Charakterzüge der Nazis zutreffen.

In seinem Artikel „Der Niedergang der deutschen Leitmedien“ auf dem Internet-Blog Free21 seines Kompagnons Pohlmann bestreitet Fiedler nicht nur die Täterschaft islamistischer Terroristen beim Anschlag auf die Twin-Towers des WTC am 11.9.2001 in New York, sondern auch auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 in Paris sowie beim Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin im Dezember 2016. Die Zurückweisung der Behauptung, „dass islamistischer Terror eine Erfindung der westlichen Geheimdienste ist“, bezeichnet Fiedler als „groben Unfug.“ Dass er diesen Verschwörungswahn für wahr hält, zeigt sich auch, wenn als Hauptverantwortliche dieses Terrors US-amerikanische Neokonservative verdächtigt, die mit „9/11 als Argument“ operieren würden, „um einen ewig andauernden Krieg gegen den ‚Terror‘ zu legitimieren.“ [4]

… und Israelhass

Einen guten Freund nennt Fiedler Rolf Verleger, einen bundesweit bekannten Propagandisten, der antisemitischen und antiisraelischen Kampagne „Boycott, Divestment, Sanctions (BDS)“. Verleger schiebt der Politik Israels die Verantwortung für die aktuelle Welle des Antisemitismus in Europa zu. [5] Antisemitische Parolen auf Demonstrationen hält er für „Ausbrüche von verständlicher Empörung“ [6] und Kippa-Träger sind für ihn selbst schuld, wenn sie angegriffen werden. Eine Distanzierung Fiedlers von diesen Aussagen seines Freundes, von dem er sich Empfehlungsschreiben ausstellen lässt, ist nicht bekannt.

Der Waldorf-Lehrer Fiedler verbreitet ähnliche antiisraelische Hassparolen wie Verleger. So bezeichnet er gemeinsam mit seinem Kompagnon Pohlmann ein israelisches Hochsicherheitsgefängnis, in dem Mörder, Attentäter und antisemitische Terroristen inhaftiert sind, als „israelisches Foltergefängnis“, in dem systematisch vergewaltigt werden würde, weswegen die beiden es auch das „israelische Guantanamo“ nennen. [7]

Israelische Sicherheitskräfte und Politiker, die die Bevölkerung vor antisemitischem Terror schützen, beschimpft Fiedler als „Psychopathen“. [8] Mit Pohlmann phantasiert er, dass der jüdische Staat mit seinen Geheimdiensten systematisch das Internet zu seinen Gunsten zensiere, eine konzertierte Beeinflussung von Wikipedia betreibe und das Internet mit proisraelischen Inhalten überflute: „Sie müssen das Internet beherrschen.“ [9] Und im Duett mit Ken Jebsen mutmaßt er, es sei doch „komisch“, dass eine Party für den „Wikipedianer des Jahres“ in Tel Aviv stattgefunden habe. [10] Wenig überraschend leugnet Fiedler andererseits die Bedrohung Israels durch das iranische Mullah-Regime.

Corona-Leugnung …

Seit dem Frühjahr nimmt der Verschwörungswahn Fiedlers noch größere Geschwindigkeit auf. In einer Art „Protokolle der Weisen von Zion reloaded“ halluziniert er die gesamte Corona-Krise zum Komplott – inszeniert von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung, die als Drahtzieher in einem Netzwerk gemeinsam mit den Finanziers George Soros und Warren Buffet sowie der US-amerikanischen John-Hopkins-Universität und der Pharmaindustrie, die Anti-Corona-Politik der Bundesregierung und die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien bestimmen würden, um davon zu profitieren. [11]

Mit dem auf dem Logo der Kampagne „Gib Aids keine Chance“ basierenden Slogan „Gib Gates keine Chance“ setzt Fiedler den Microsoft-Gründer mit einer ansteckenden Krankheit gleich [12], während er die Corona-Pandemie selbst verharmlost. Der Waldorf-Lehrer wendet sich gegen die Maskenpflicht [13] und gegen Impfungen. [14] Menschen, die sich impfen lassen wollen, diffamiert er In sozialdarwinistischer Weise. [15]

Seine antiamerikanischen und antiisraelischen Phantasmen sowie seine aktuellen Mythen über die ‚Hintermänner‘ der Anti-Corona-Maßnahmen verbreitet er in enger Übereinstimmung mit dem bundesweit wohl bekanntesten Verschwörungsblogger Ken Jebsen. Fiedler rühmt sich, den Internet-Suchdienst Google gemeinsam mit seinem Anwalt per Gerichtsbeschluss dazu gezwungen zu haben, einen verschwörungstheoretischen Beitrag von Jebsen unter dem Titel „Corona-Diktatur“ wieder freizuschalten. [16] Eines von Jebsens Videos über die angeblichen Machenschaften der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung in der Corona-Krise lukrierte im Frühjahr innerhalb weniger Tage 5 Millionen Aufrufe.

Mittlerweile betätigt sich Fiedler auch selbst als Redner auf den Demos der Corona-Leugner, etwa am 22. August 2020 in Flensburg. Dort suggerierte er u. a. in geheimnistuerischer Wese, dass Bill Gates noch irgendetwas Dubioses vorhabe. [16]

… und Angst vor der Israel-Lobby

Die Amadeu-Antonio-Stiftung, die in Bildungsprogrammen über Antisemitismus, Rassismus und Verschwörungstheorien aufklärt und aktiv gegen Hate-Speech im Internet vorgeht, wird von Fiedler mit der Scientology-Sekte gleichgesetzt, während er versucht, Unterrichtsbesuche ihrer Mitarbeiter zu unterbinden. [18] Selbst die Bundeszentrale für politische Bildung bezeichnet der Lehrer als Organisation zur Meinungsmanipulation. [19]

Aktuell halluziniert er in seiner Anwaltspost, Freundinnen und Freunde Israels würden bundesweit eine konzertierte Kampagne zur Diskreditierung der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen führen. Dabei diskreditieren sich diese Demos durch die Verbreitung antisemitischer und verschwörungsideologischer Inhalte, durch die Nichteinhaltung der Corona-Schutzmaßnahmen und durch die Beteiligung von Identitären, Reichsbürgern, Pegida- und AfD-Anhängern sowie Neonazis von selbst.

Die Waldorfschule hat bisher auf zwei Briefe der Deutsch-Israelischen Gesellschaft AG Oldenburg zur Verbreitung von Verschwörungsideologien durch ihren Lehrer nicht geantwortet.

UPDATE:

Inzwischen erreichte uns die Nachricht (inkl. dieser Information der Bundes der Freien Waldorfschulen:
https://www.waldorfschule.de/artikel/bund-der-freien-waldorfschulen-fuer-einen-faktenbasierten-diskurs-zur-covid-19-pandemie-an-schulen), dass der im Bericht genannte Lehrer nicht mehr an dieser Waldorfschule tätig sei. Dies lässt sich allerdings nicht verifizieren, und der Autor des Berichts weist darauf hin, dass die Schulleitung auf Anfragen seinerseits nicht reagierte und sich auch der Presse gegenüber nicht geäußert habe.

Anmerkungen:

[1] Vgl. im Internet: Geschichten aus Wikihausen 27, Hassrede im Internet – Zweierlei Ma(as)ß, 14.08.2019, Minute 46:40-49:30.

[2] Im Internet: Geschichten aus Wikihausen 38, Corona-Shutdown, Wikipedia als Propagandainstrument der Regierung, 02.04.2020, Minute 49:00

[3] Vgl. im Internet: Geschichten aus Wikihausen 26, Rufmordkampagnen in Wikipedia und anderen Medien gegen Uwe Steimle, 10.07.2019.

[4] Im Internet: Free21, Markus Fiedler, Der Niedergang der deutschen Leitmedien, 8.2.2018.

[5] Vgl. im Internet: www.deutschlandfunk.de. Antiisraelische Proteste. Wer hat uns das denn eingebrockt? 22.07.2014. Tobias Armbruster im Interview mit Rolf Verleger.

[6] Jüdische Allgemeine, 21.8.2014.

[7] Im Internet: Geschichten aus Wikihausen 8. Israelisches Foltergefängnis in Wikipedia schöngeschrieben, 24.12.2018, Minute 36:00.

[8] Im Internet: Geschichten aus Wikihausen 39, Corona-Shutdown – Umgang des Mainstreams mit den Alternativen Medien, 24.04.2020, Minute 13:45.

[9] Vgl. im Internet: Geschichten aus Wikihausen 4: Konzertierte Beeinflussung der Wikipedia durch Hasbara, ACT.il, Unit8200, Camera!, Minuten 3:50, 10:00 und 12:45.

[10] Vgl. ebd. Minute 19:00 und KenFM im Gespräch mit Markus Fiedler, 16.02.2017, Minute 1:41:52.

[11] Vgl. im Internet: Geschichten aus Wikihausen 38, ab Minute 1:21_00.

[12] Ständig eingeblendet in seiner Sendung Geschichten aus Wikihausen 40, Eingriffe in den politischen Meinungskampf durch den Staat, 20.05.2020.

[13] Vgl. im Internet auf YouTube, Markus Fiedler, Initiative für Grundrechte-Demo, 22.08.2020.

[14] Vgl. im Internet: Geschichten aus Wikihausen 41, Minute 56:50.

[15] Vgl. im Internet: Nuoviso.tv, HomeOffice # 29, 28.5.2020, Minuten 1:31:40- 1:33:15

[16] Vgl. im Internet: Geschichten aus Wikihausen 41.

[17] Vgl. Im Internet auf Youtube, Markus Fiedler, Initiative für Grundrechte-Demo-22.08.2020, Minute 18.30.

[18] Vgl. im Internet: Nuoviso.tv, Der Psiram-Faktor #BarCode mit Markus Fiedler, Bodo Schickedanz, Robert Stein, 28.06.2017. Minute 50:00.

[19] Vgl. im Internet: Geschichten aus Wikihausen 40, Minute 1:02:25.


Dieser Gastbeitrag von Klaus Thörner, der sich als offener Brief an die Waldorfschule Oldenburg versteht, erschien zuerst bei Mena-Watch

Kachelmann und der brennende Dornbusch – selbstentzündliche Pflanzen als biblischer Mythos

$
0
0

Es brennt in Europa und dem Rest der Welt und man sucht die Schuldigen. Kachelmann empört sich über Medienberichte, die Hitze würde die Brände verursachen. Dass hohe Temperaturen ein begünstigender Faktor für eine Brandentstehung sind, ist weitgehend unstrittig. Ob aber allein durch hohe Temperaturen und eine hohe Einstrahlung von Sonnenlicht tatsächlich ein Brand ausgelöst werden kann, ist sehr umstritten. Man nennt gelegentlich Glasscherben, die als Sammellinsen (Lupeneffekt) für Sonnenlicht dienen, als eine mögliche Ursache. Das gilt aber unter Experten eher als unwahrscheinlich und wird in den Bereich der Mythen eingeordnet.

Es gibt auch immer wieder Berichte, alleine die hohen Temperaturen über 30 °C wären in der Lage, brennbares Material – insbesondere Pflanzen – zu entzünden, die sogenannte Selbstentzündung. Das Phänomen gibt es (allerdings nicht beim Menschen); ob es allerdings für die Brandentstehung unter realen Umweltbedingungen (insbesondere bei so niedrigen Temperaturen) verantwortlich ist, ist nicht belegt und sehr unwahrscheinlich. Es gibt jedoch zahlreiche Berichte und Meldungen, die die Selbstentzündlichkeit als Tatsache darstellen. Oder handelt es sich um einen Mythos, der auf der biblischen Überlieferung eines brennenden Busches, aus dem Gott zum Propheten spricht, beruht? Letzteres ist am wahrscheinlichsten.

Als Beleg für eine sich selbst entzündende Pflanze wird gelegentlich auf einen Wikipediartikel zu einer Pflanze, die umgangssprachlich als Diptam bezeichnet wird, verwiesen. Dort heißt es:

An extrem heißen Tagen können sich die Dämpfe auch selbst entzünden. Erklärt wird dies durch die Brennglaswirkung bei Tröpfchenbildung. In der Dämmerung kann man bei Windstille und großer Hitze an der Pflanze kleine blaue Flammen sehen.

Auffällig ist, dass zu der Aussage keine Quelle genannt wird. Zudem ist die Aussage ungenau, was sind denn bitte „extrem heiße Tage“? Sucht man den letzten Satz mit einer Suchmaschine, so findet man ihn wortgetreu in zig anderen Zusammenhängen; so auch in Pressemitteilungen, etwa bei der Mainpost. Es finden sich zu der angeblich selbstentzündlichen Pflanze noch weitere Hinweise auf Wikipedia, hier sogar mit scheinbarem Beleg.

Auch im Artikel „Isopren“, eine von manchen Pflanzen freigesetzte, leicht flüchtige (und entzündliche) Verbindung, wird auf die Selbstentzündbarkeit des Diptams hingewiesen. Hier wird als Beleg für die Entzündbarkeit (nicht die Selbst…!) des Diptams die gleiche Quelle angegeben wie schon im eigentlichen Diptam-Artikel: eine Arbeit eines israelischen Privatforscherehepaars, das offensichtlich auf der Suche nach der Bestätigung biblischer Inhalte ist. Die Selbstentzündlichkeit ist hier aber gar nicht untersucht worden; diesbezüglich verweisen die beiden lediglich auf ein Buch eines polnischen Literaten mit dem Titel „Biblische Legenden“ [Opowieści biblijne]. In diesem ist von der „leichten Entzündlichkeit des Diptams oder Moses-Busches“ die Rede, aber es bleibt beim Hörensagen [1]. So gelangt der Bericht, inzwischen als wissenschaftlich getarnt, aus der Bibel in die Wikipedia.

In der Studie will man – entgegen aller vorherigen Studien – festgestellt haben, dass Diptam größere Mengen an Isopren erzeugen und freisetzen kann. Die Methodik ist allerdings mehr als fragwürdig: man hat das Isopren nicht als Emission der Pflanze selbst gemessen, sondern nur in Extrakten mit einem reaktiven Lösemittel, das man zudem noch tagelang der Sonne ausgesetzt hat, gefunden. Das ist ein typischer Artefakt und kann nicht belegen, dass Isopren ein Produkt dieser Pflanze ist.

Fragt man die allwissende Suchmaschine nach selbstzündendem Diptam, so erhält man u.a. sehr oft den immer gleichlautenden Hinweis verschiedenster Pflanzenverkäufer:

Ein besonderes Schauspiel lässt sich während der Dämmerung beobachten. Bei großer Hitze und gleichzeitigen Windstillstand lassen sich manches Mal kleine bläuliche Flammen erkennen.

Dabei handelt es sich wahrscheinlich um ein verkaufsförderndes Argument: ein solches Naturwunder im heimischen Garten lässt den Nachbarn doch bestimmt vor Neid erblassen.

Es gibt keinen Hinweis auf eine seriöse wissenschaftliche Publikation, die die Selbstentzündung am Diptam dokumentiert. Lediglich die Verpuffung an der Pflanze, die man durch eine kleine Flamme erzeugen kann, wird in einigen YouTube-Videos gezeigt. Ob es sich allerdings um eine gestellte Szene handelt, bei der man etwas nachgeholfen hat, ist unklar. Generell muss man bei solchen Videos im Hinterkopf behalten, dass zwecks Erreichung hoher Klickzahlen nicht immer ehrlich gearbeitet wird. Wie auch immer, jedenfalls wird bei allen Videoclips, die wir gesichtet haben, keine Selbstentzündung vorgeführt, sondern lediglich eine normale Entzündung.

Weitere Hinweise zu selbstzündendem Diptam kommen aus der pseudowissenschaftlichen Ecke. Erich von Dänikens jüngeres Ego Lars A. Fischinger etwa mutmaßt:

Diese Pflanze, bei uns als Spechtwutz [sic; richtig: Spechtwurz] bekannt, ist mit zahllosen Öldrüsen versehen, die bei großer Hitze ein Öl/Gas absondern, das sich bei starker Sonnenintensität und Windstille von selbst entzünden kann. Dieser natürliche Vorgang ist dabei so kurzzeitig, dass die nur etwa ein Meter kleine Pflanze dabei nicht verbrennt. Darauf hat bereits Werner Keller in seinem Weltbestseller „Und die Bibel hat doch recht“ im Jahr 1955 hingewiesen.

Überprüft man allerdings die angegebene Quelle (Kellers Bibel-Apologetik), findet sich kein Hinweis auf eine Selbstentzündung, nur auf die Entflammbarkeit. Zumindest weist Fischinger erneut auf einen möglichen Ursprung der Erzählung hin: religiös Gläubige, die die Bibel wortgetreu auslegen, sehen im Diptam einen möglichen Kandidaten für den Brennenden Dornbusch, aus dem Moses bei seiner Flucht aus Ägypten göttliche Anweisungen erhielt. Das erklärt auch die merkwürdige Vorgehensweise des israelischen Hobbyforscherpaares, das offensichtlich nach der Bestätigung alt-testamentarischer Phänomene sucht.

Auch scheinbar weltlich orientierte Menschen haben offensichtlich ein Interesse daran, solche Mythen zu verbreiten. Es müssen nicht immer religiöse Gründe sein, was ja auch an den Pflanzenverkäufern zu erkennen ist. Wenn das allerdings im Gewand wissenschaftlicher Bildung daherkommt, hat das nochmal einen ganz anderen Stellenwert. Dann wird der Erklärer schnell zum Verklärer.

So der britische Naturfilmer David Attenborough, der auf YouTube einen kurzen Film zu einer sich angeblich selbst entzündenden Pflanze – diesmal nicht Diptam – zeigt. Vor laufender Kamera soll man erkennen, dass die im Mittelmeerraum verbreitete Art Montpellier-Zistrose (Cistus monspeliensis) sich bei Temperaturen ab 32 °C selbst entzündet. Die Aufnahmen wirken merkwürdig gestellt und dies wird auch in einigen Kommentaren angemerkt. Belege, die das Phänomen (wissenschaftlich) bestätigen, werden auch auf Nachfrage nicht geliefert. Es bleiben Zweifel an der Echtheit sowohl der Aufnahmen als auch der des Phänomens. Das hält viele Kommentatoren nicht davon ab, das angebliche Selbstentzündungswunder als ein Zeichen Gottes zu deuten. Kommentare wie dieser von Kooka Munga sind selbstredend:

I knew there had to be a scientifically sound reason to explain the Burning bush from the Bible. Here it is explained by modern science and not magic at all. Plants actually made fire before humans. That’s humbling .

Attenborough ist nicht unumstritten, so wie viele andere „Naturfilmer“, die es mit der Echtheit ihrer Aufnahmen nicht immer allzu genau nehmen. Es zählen Sensationslust und verklärende Darstellungen, die man notfalls künstlich inszeniert. Die Natur wird nicht so gezeigt wie sie ist, sondern so, wie sie dem Publikum am besten gefällt.

Es ist vollkommen unplausibel und auch nicht unabhängig und nachvollziehbar dokumentiert, dass sich Pflanzen selbst entzünden können. Dafür wären Umstände erforderlich, die Pflanzen und ihr Umfeld einfach nicht hergeben. Damit sich etwas selbst entzünden kann (abgesehen von wirklich pyrophoren Substanzen wie weißer Phosphor), muss sich die Substanz durch chemische Prozesse auf die Entzündungstemperatur (selbst) erwärmen. Sie darf dafür nicht allzu leicht flüchtig sein und die erzeugte Wärme darf nicht schnell abgeleitet werden. Das ist z.B. bei ölgetränkten Lappen der Fall, wo sich durch Oxidationsprozesse Wärme bildet. Durch die gute Isolation des Lappens kann sich die Wärme soweit stauen, dass die Zündtemperatur des Öls erreicht wird. Das dauert aber Tage bis Wochen und ist ein seltenes Ereignis. Ähnliches gilt für Heuballen, die sich ebenfalls selbst entzünden können.

Bei (noch lebenden) Pflanzen ist das unmöglich. Selbst wenn sie Öle produzieren, die durch Oxidation Wärme erzeugen, fehlt hier die nötige Isolationsschicht, damit sich die Wärme bis zur Zündtemperatur aufstauen kann. Leicht flüchtige Substanzen (etwa Isopren) würden dabei verdampfen. Pflanzenphysiologische, ökologische und vor allem evolutionäre Überlegungen lassen es auch als sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass es solche Phänomene tatsächlich gibt. Und man muss es immer wieder betonen: man kennt das Phänomen in der Wissenschaft nicht. Wäre es so wie etwa Attenborough behauptet, so müsste man quasi vor solchen Pflanzen warnen und sie sogar aktiv bekämpfen. Es handelt sich ja um – gerade im trockenen Mittelmeerraum – sehr häufig vorkommende Pflanzen. Dass das unter Brand(ursachen)bekämpfern nicht thematisiert wird, ist ein starker Hinweis darauf, dass das Phänomen real nicht existiert.

Das sagen auch Leute wie Johann Goldammer, internationaler Experte für Feuerökologie. Wenn das gelegentlich als Brandursache behauptet wird, will man davon ablenken, dass es eine andere Ursache, wie Brandstiftung oder Munitionsreste gewesen sein könnte. In dem Fall ist das Motiv nicht religiös, es ist scheinheilig.

 


Das Thema wurde im Forum ausgiebig und „kontrovers“ diskutiert: Kachelmanns Waldbrände


  1. : „Например, в Библии Моисей рассказывал израильтянам, как Яхве беседовал с ним через горящий, но не сгорающий куст. Теперь мы уже знаем, что такой куст существует, он и в наши дни встречается на Синайском полуострове и называется диптам или куст Моисея. Это своеобразное растение выделяет летучее эфирное масло, которое легко воспламеняется на солнце. Экземпляр этого куста привезли даже в Польшу и посадили в горностепном заповеднике в Скоротицах. В 1960 году газеты сообщили, что, к удивлению местных жителей, куст Моисея в жаркий день загорелся голубовато-красным огнем.“ Зенон Косидовский: Библейские сказания. Пер. с польск. [1963] Изд. 4-е. М., Политиздат, 1978., S. 150. Eine Quelle gibt Kosidowski nicht an.

Schutz für die zarte Russische Seele

$
0
0

Wie wird der Ukraine-Krieg enden? Werden die Russen mit klingendem Spiel und wehenden Fahnen in Kyiv einmarschieren? Wird das Russische Reich die „Vorherrschaft des Westens“ brechen, seine Grenzen erweitern und im Schulterschluss mit China und den BRIC-Staaten eine „multipolare Weltordnung“ etablieren? Ist die Demokratie ein Auslaufmodell ohne Zukunft? Und für den Fall, dass das im Westen nicht so recht eingesehen wird: werden dort die Lichter ausgehen, die Heizungen abgestellt und die Industrie auf Subsistenzniveau heruntergefahren? Oder werden die Sanktionen der russischen Rüstungsindustrie den Saft abdrehen und es der Ukraine ermöglichen, ihren Widerstand gegen die skrupellose, verbrecherische russische Kriegsführung zu einem siegreichen Ende (wie immer das konkret aussehen mag) zu führen?

Aktuell wird europaweit kontrovers über ein Einreiseverbot für alle russischen Staatsbürger debattiert. Trotz der Skepsis von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) drängt Finnland auf einen EU-Einreisestopp für russische Touristen. (FAZ, 15.08.2022). Man sollte dem Bundeskanzler, aber auch anderen Protagonisten des Narrativs „von den armen Russen, die ja auch leiden“ und des „Die NATO ist am allen Schuld“ ins Gedächtnis rufen, mit wem man es eigentlich zu tun hat.

Auf Twitter kursieren derzeit die „Ansichten eines erfahrenen litauischen Militärexperten“, wie der Ukraine-Krieg ausgehen wird (deeplifizierte Fassung hier), Das, was da als “Worst Case“ bezeichnet wird (Anarchie, Hungersnot und Bürgerkrieg im Westen), ist genau das, was dem Russen (fast hätte ich gesagt dem Sowjetbürger) täglich von seinen Massenmedien als Realität eingehämmert wird. Die Intellektuellen im Fernsehen sind furchtbar, keine Jauchegrube ist ihnen zu stinkend. Kürzlich haben sie daran erinnert, dass Kritiker im Ausland Namen tragen, die auf „-baum“ oder „-zweig“ enden, mit sich überschlagender Stimme und Schaum vor dem Mund. Da spreche sich ein ganzes „Parlament“ im Westen gegen die Sanktionen aus, wenn dort ein linker Spinner verkündet, die Sanktionen würden den Russen nicht schaden, und völlig schambefreit werden Rechtsextreme als Verbündete hofiert. Was sagt Oleksandra Povoroznyk, eine Ukrainerin, dazu?

Ich weiß, dass nicht alle westlichen Linken so sind. Offensichtlich nicht. Ich weiß, dass viele von ihnen mit unserer Notlage sympathisieren, und ich bin dankbar für ihre Unterstützung. Aber diejenigen, die diese Invasion als Vorwand betrachten, langatmige Theorien darüber aufzustellen, dass die NATO ein allgegenwärtiges universelles Übel ist, oder die all dies als eine Art verdrehte Ethikübung behandeln, ein trolliges Problem, bei dem die Ukrainer die aufopferungsvollen Wilden sind, die still zu sterben haben, bevor echte Menschen anfangen, unter hohen Gaspreisen oder einem Atomkrieg zu leiden … Das werde ich nie vergessen.
https://twitter.com/rynkrynk/status/1554179199837126657

Das Gebarme von Wagenknecht & Co. ist nur nostalgischer Zynismus: Vor dem Ukraine-Krieg war doch alles in Ordnung, und hinterher wird auch wieder alles in Ordnung sein. Am schnellsten ist er vorbei, wenn die Ukrainer aufgeben. Und es gibt nach ihrem Untergang ja immer noch Pufferstaaten vor der deutschen Grenze.

Eine der ersten Maßnahmen der Putin-Regierung bei Beginn des Krieges war das Verbot, das Wort „Krieg“ auszusprechen. Der Zugang zu unabhängiger Berichterstattung wird kriminalisiert (vgl. hier). Das funktioniert:

According to a new Levada Center survey, the percentage of Russians who think the country is on the right track has risen since the start of Russia’s aggressive war in Ukraine from 50 to 68%, while the share who think otherwise has fallen from 39 to 22%.
Nach einer neuen Erhebung durch das Levada-Zentrum ist der Prozentsatz der Russen, die glauben, das Land sei auf dem richtigen Weg, seit dem Beginn des Angriffskriegs in der Ukraine von 50% auf 68% gestiegen, während der Anteil derjenigen, die anders denken, von 39% auf 22% gefallen ist.
EuroMaidanPress

In der “Gedanken”welt der russischen Propaganda kommt eine friedliche Kooperation, ein gegenseitiger Vorteil z. B. durch Handel, nicht vor. Das Leben ist für die ein Nullsummenspiel: es kann mir nur gut gehen, wenn es anderen dreckig geht.

Der Winter wird kalt und schwierig, keine Frage. Von dem Herrn Bundeskanzler erwarten wir klare Kante. Es ist erforderlich auszusprechen, was hier auf dem Spiel steht. Die Demokratie ist weltweit in einer Gefahr wie seit den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht mehr, und nicht allein durch diesen Krieg. In den USA ist ihr Untergang immer nur eine Wahl entfernt.

Ein Verbot der Einreise in die EU für die Russen wäre in seinem symbolischen Gehalt kaum zu überschätzen. In der Schlussphase der DDR konnte der Bürger nur noch nach Rumänien und in die Sowjetunion reisen – Polen, CSSR und Ungarn waren dicht. Kadyrow hat schon mal mit seiner schrecklichen Wut und seiner unkontrollierbaren Rache gedroht, wenn er Buckingham Palace nicht besuchen kann (hier). Und um den Stil eines Lawrow zu bemühen: Ein Einreiseverbot wäre auch im wohlverstandenen eigenen Interesse der Russen. Ihre zarten russischen Seelen sollten vor dem Anblick des Chaos im Westen geschützt werden.


Wie robust sind die Zitate der Pharma-„Kritiker“?

$
0
0

Dr Johnson liest die erschütternde Neuigkeit (adaptiert von Wikipedia)

Wenn man wünscht, sein allgemeines Unbehagen über Medikamente, die Machenschaften der Pharma- und Impfmafia usw. mit anschaulichen Beispielen auszustaffieren, ist man bei Professor Harald Walach an der richtigen Adresse. Sein ganzes Berufsleben lang war dies einer seiner Schwerpunkte, was uns schon manche Glosse wert gewesen ist.

Vor nicht langer Zeit hat er uns erneut einen kurzen Text zu diesem Thema ins Stammbuch geschrieben. Nachdem er die initial überschätzte Wirksamkeit des Grippemittels Tamiflu anreißt, fährt er fort mit Exempeln aus einem Buch von Peter C. Gøtzsche. Gøtzsche war Mitbegründer des Nordic Cochrane Center, einem renommierten Forschungsnetzwerk zur evidenzbasierten Bewertung klinischer Studien. 2018 wurde er wegen möglicher Rufschädigung ausgeschlossen (hier, hier). In unserem Blog (hier) wie auch in unserem Forum (hier, hier) war gelegentlich von ihm die Rede. Walach referiert:

Peter C. Gøtzsche beschreibt in seinem neuen Buch „Mental Health Survival Kit and Withdrawal From Psychiatric Drugs“, das ich an dieser Stelle gerne weiterempfehle (siehe Link oben) einige weitere drastische Beispiele:

Lamotrigine

Für das Antiepileptikum Lamotrigine gibt es nur 2 publizierte positive Studien in der Literatur; 7 große negative Studien wurden nicht publiziert. Gøtzsche schreibt dazu: „Two positive trials are all it takes for FDA approval […]“ [7] (Dieses Literaturzitat hat mir Peter C. Gøtzsche am 25.6.2020 per E-Mail geschickt, er verwendet es auch in seinem Buch.)

Der Fachkundige hat keine Möglichkeit, davon unberührt zu bleiben. Lamotrigin (so die deutsche Fassung des generischen Namens) ist ein seit Mitte der 90er Jahre zugelassenes Antiepileptikum; an seiner Wirksamkeit hat kein Kliniker Zweifel. Wenn es langsam aufdosiert wird, ist es nebenwirkungsarm. Es hat kein teratogenes Potential und ist deshalb Mittel der Wahl zur Behandlung der Epilepsie in der Schwangerschaft. Pubmed listet (Stand August 2022) 314 randomisierte kontrollierte Studien auf; die Zahl aller dort erfassten Fachartikel beläuft sich auf 6263. Es wäre schon erschütternd, wenn das alles gelogen wäre.

Das ist Grund genug, dringend nach dem Originalzusammenhang zu suchen. Gøtzsche schreibt (hier):

Psychiater nennen diese schrecklichen Drogen „Stimmungsstabilisierer“, was nicht das ist, was sie bewirken […] Ich habe nach Stimmungsstabilisierern gegoogelt und gefunden: „Stimmungsstabilisierer sind psychiatrische Medikamente, die Stimmungsschwankungen zwischen Depression und Manie dämpfen […]“.

Mir sind oft Patienten begegnet, die das Antiepileptikum Lamotrigin nehmen. Nur zwei positive Studien sind für dieses Medikament publiziert worden, während sieben große, negative Studien unpubliziert sind [127]. Zwei positive Studien waren alles, was für die FDA[1]-Zulassung nötig war, und die Agentur sieht die anderen Studien als gescheitert, selbst wenn wir sehen, dass das Medikament gescheitert ist. […]

Wenn Du nicht gerade eine Epilepsie hast, dann vergiss diese Medikamente, und wenn Du sie einnimmst, dann suche Dir Hilfe dabei, wie Du sie so schnell wie möglich los wirst.

Hier fällt zunächst ein salopper, publikumswirksamer Stil im Dienst eines gewissen missionarischen Eifers auf. Für jemanden, der es sich zum Ziel setzt, mit wissenschaftlichen Mitteln gegen das Pharma-Establishment anzukämpfen, ist „I googled it“ schon eine reichlich nachlässige Art der Recherche – oder vielleicht, die Zielgruppe des Buches ist nicht mehr das Fachpublikum. Als nächstes scheint sich anzudeuten, dass es um die Indikation von Lamotrigin als Stimmungsstabilisierer und nicht als Antiepileptikum geht. Der Neurologe wird sich erleichtert zurücklehnen – aber auch der Leser? Walach hat diesen wichtigen Unterschied mindestens generös unter den Tisch fallen lassen, wenn er ihn nicht geradezu verschleiert hat. Und selbst in einer solchen psychiatrischen, die Epilepsie nicht betreffenden Indikation gibt es nicht „nur 2 positive […] und … 7 negative Studien in der Literatur“ (O-Ton Walach), sondern (wieder Stand August 2022) insgesamt 73 (hier). Es hätte den Leser verwirrt, noch weitere Studien als nur die für die Zulassung nötigen zu berücksichtigen – oder hätte es die message verdunkelt?

Gøtzsches Quelle [127] ist ein Artikel von Nassir Ghaemi (Volltext hier). Er berichtet, dass er einer der Studienleiter [a principal investigator] für die Erhaltungstherapie bei bipolaren Störungen gewesen ist und dass das Medikament sich in dieser Indikation als wirksam erwiesen hat. Die sieben negativen Studien hatten die Effektivität in der Akuttherapie von Depressionen und beim Rapid Cycling (eine Sonderform der bipolaren Störung mit schnellen Stimmungswechseln) geprüft:

Die klinische Relevanz der Lamotrigin-Studien ist bemerkenswert: wenn man die negativen Ergebnisse in Betracht zieht, kann man heute sagen, dass es sicher wirksam [reasonably effective] in der Erhaltungstherapie bei der bipolaren Störung ist, insbesondere bei der Verhütung der Depression. Es ist erwiesenermaßen unwirksam in der akuten Manie, beim Rapid Cycling und in der akuten bipolaren Depression.

Dr. Johnson ist durch mit Gøtzsche und Walach (adaptiert von Wikipedia)

Das ist das genaue Gegenteil von dem, was Gøtzsche aus diesem Text herausgelesen hat. Die Erhaltungstherapie (d. h. die Rezidivprophylaxe) der bipolaren Störung ist es, die mit dem Begriff „Stimmungsstabilisierung“ umschrieben wird, und Gøtzsche hätte seine Google-Bemühungen nicht vorschnell aufgeben sollen. Von Walach müssen wir nicht weiter reden. Allenfalls könnte man noch anmerken, dass in seiner plattgedrückten Wiedergabe der Text von Ghaemi als Quelle [7] brav aufgelistet ist. Entweder hat er ihn nicht gelesen oder er hat ihn falsch interpretiert, was hier auf dasselbe hinausläuft. Auch ist die von Walach angeführte Passage kein wörtliches „Literaturzitat“ Gøtzsches. Aber wer wird schon so kleinlich sein.

Zu dem Buch von Gøtzsche sei noch eine kurze Rezension von Mira de Vries (hier) erwähnt, in der sich treffende Bemerkungen mit völligem Unverstand zu einer seltenen Melange vereinigen. Schließlich sollte nicht untergehen, dass die Stellungnahme Ghaemis – off topic – unbedingt lesenswert ist.

(Übersetzungen durch Verf.)


  1. FDA: U.S. Food and Drug Administration, die amerikanische Zulassungsbehörde für Arzneimittel

Befleckte Medizinsoziologie 6

$
0
0

Teil 6 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
Teil 5

4. Kapitel: Erkenntnistheoretisches zur Geschichte der Wassermann-Reaktion

Wir können vorläufig die wissenschaftliche Tatsache definieren als eine denkstilgemäße Begriffsrelation, die zwar von geschichtlichen, individuell- und kollektiv-psychologischen Standpunkten aus untersuchbar, aber nie ohne weiteres aus diesen Standpunkten inhaltlich vollständig konstruierbar ist. (S. 110, kursiv im Original)

Wenn das zutrifft, dann ist auch die Auferstehung Christi eine wissenschaftliche Tatsache. Sie ist zweifellos denkstilgemäß, und sie ist eine Begriffsrelation (Relation i. S. von Erzählung, nicht von Beziehung). Sie ist individuell- und kollektivpsychologisch untersuchbar, aber inhaltlich nicht komplett begreifbar.

Daran an schließt der sympathischste Zug des ganzen Werkes: die Schilderung, wie Wassermann aus seinen ersten tastenden Versuchen, die rückblickend nicht mehr reproduzierbar gewesen sind, zu einer haltbaren Lösung gelangt ist.

„Es ist auch klar, daß Wassermann aus diesen verworrenen Tönen jene Melodie heraushörte, die in seinem Innern summte, für Unbeteiligte aber unhörbar war.¹ Er und seine Mitarbeiter horchten und drehten an ihren Apparaten so lange, bis diese selektiv wurden und die Melodie auch den Unbeteiligten (Unvoreingenommenen) vernehmbar wurde“ (S. 113).

Treffende Beobachtungen. Das grundlegende Problem dieser Darstellung ist nicht, dass sie nicht die Realität der Forschung abbildet, sondern dass sie willkürliche Schlüsse nahelegt, weil sie auf einer insuffizienten Philosophie beruht. Für „innere Harmonie des Denkstils“ (S. 114) könnte man auch Kohärenz der Wissenschaft sagen, das wäre präziser und würde die Religion ausschließen. Rudolf Carnap rät er, „er möge die soziale Bedingtheit des Denkens endlich entdecken“ (S. 121). „So entsteht die Tatsache: zuerst ein Widerstandsaviso im chaotischen anfänglichen Denken, darin ein bestimmter Denkzwang, schließlich eine unmittelbar wahrzunehmende Gestalt“ (S. 124, kursiv im Original). – So entsteht sie nicht, sondern so wird sie allenfalls erkannt, und der abwertende Tonfall lässt auf ein leises Bedauern schließen, dass der ungezügelte Denkstil zu nichts führt.

„Den gemeinschaftlichen Träger des Denkstiles nennen wir das Denkkollektiv. […] Ein Denkkollektiv ist immer dann vorhanden, wenn zwei oder mehrere Menschen Gedanken austauschen“ (S. 135) – Es ist also ein undefinierter, inhaltsleerer Begriff, denn es gibt kein Nicht-Denk-Kollektiv. Es gäbe „momentane“ und „stabile“ Denkkollektive. Doch auch nichtwissenschaftliche Denkkollektive haben eine formale Struktur, mit einem „gewissen disziplinierten, gleichmäßigen, diskreten Niveau“, denn das gilt schon für Familien, Sippen und erst recht für Kirchen … und genau darauf kommt es Fleck an: Statt den Unterschied zur Unwissenschaftlichkeit herauszuarbeiten, betont er die Gemeinsamkeiten. Ein Lehrbuch der Astronomie ist nichts anderes als ein Katechismus, ein Ordensgelübde nichts als ein Staatsexamens-Diplom: „Die Einweihung in einen Denkstil, also auch die Einführung in eine Wissenschaft sind erkenntnistheoretisch jenen Einweihungen analog, die wir aus der Ethnologie und Kulturgeschichte kennen. Sie wirken nicht nur formell: der heilige Geist senkt sich auf den Neuling herab und bis jetzt Unsichtbares wird ihm sichtbar“ (S. 137) – auch hier nimmt er Kuhn vorweg, der nur ein wenig vorsichtiger mit seinen Formulierungen gewesen ist. Worin unterscheidet sich die Bibel von der Entstehung der Arten? Zustimmend wird Uexküll zitiert: „Die Physik hat sich mit ihrem Glauben an die absolute Existenz einer objektiven Welt vollkommen festgefahren.“ (S. 138) Aber was das wissenschaftliche Denkkollektiv nun wirklich vom Kardinalskollegium trennt, das bleibt der Elefant im Raum: der kritische, auf Fehlerquellen abklopfende Umgang mit der Erfassung der in ihrer Existenz unbezweifelten Realität, der Korrespondenzbegriff der Wahrheit.

Anschließend rezipiert Fleck mittelalterliche Signaturenlehren und ausführlichst frühneuzeitliche medizinische Traktate, die schon zur Zeit ihrer Entstehung Fringe gewesen sein müssen [5]. Dieser Denkstil hat bereits einen einprägsamen, kurzen Namen, der jedermann geläufig ist: man nennt ihn Magie, oder heute, Esoterik. Mit ebenso großer Liebe zum Detail zitiert er aus einer Epitome aus Vesals Anatomie 1642. Er stellt fest, dass die Beschreibungen z. B. der Knochen um vieles umfangreicher sind als in heutigen Anatomie-Atlanten, denn sie enthalten ganze Abhandlungen z. B. zur Etymologie. Fleck spekuliert wortreich darüber, was die Namen für eine tiefe Bedeutung hatten. – Doch das war 1642 keine medizinische Forschung, sondern die Reproduktion von Bekanntem. Anatomie hatte eine viel geringere praktische Bedeutung, denn jegliche ernsthafte Chirurgie scheiterte an fehlender Beherrschung der Wundinfektion und fehlender Schmerzstillung, und man überließ sie den Barbieren (der Rechtgläubige durfte kein Blut vergießen). Auch die Erfolge der Inneren Medizin basierten nahezu völlig auf dem Placebo-Effekt, und dafür konnte salbungsvolles gelehrtes Gelaber über Etymologie nur hilfreich sein. Sie wussten nur Zugpflaster, Aderlasse und Einläufe, so dass die Homöopathie einen Fortschritt bedeutete, weil sie wenigstens den natürlichen Verlauf nicht verkomplizierte. Pierre Bayle hatte ganz recht daran getan, sich die Ärzte vom Leibe zu halten. Das 18. Jhd. war der Nadir der Medizin. Dr. John Coakley Lettsome (1744–1815) wird folgender Vers zugeschrieben:

I, John Lettsome,
Blisters, bleeds and sweats ‚em.
If, after that, they please to die,
I, John Lettsome.

Ich, John Lettsome,
Verpasse Zugpflaster, Aderlässe, Schwitzbäder,
Wenn sie dann zu sterben belieben,
Ich, John, lasse welche/sie. [let some oder let them]

Da muss man gar nicht so viel über Denkstile philosophieren.

Fleck wird nicht müde in dem Bestreben, Glauben und Wissenschaft zu vereinen. Die Spezifik des wissenschaftlichen Denkens bestehe in seiner Stimmung. „Sie findet den Ausdruck als gemeinsame Verehrung eines Ideals, des Ideals objektiver Wahrheit, Klarheit und Genauigkeit. Sie besteht aus dem Glauben, daß Verehrtes erst in weiter, vielleicht unendlich weiter Zukunft erreichbar sei. Aus der Lobpreisung sich seinem Dienste aufzuopfern. Aus einem bestimmten Heroenkult und einer bestimmten Tradition.“ (S. 187f, kursiv im Original).

Schluss

Fleck hält die „lebensfremde Sprache“ für das eigentliche Signum wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie sorge für die „fixe Bedeutung der Begriffe“ und mache sie „entwicklungslos, absolut“. Hierzu trete „die spezifische Verehrung der Zahl und der Form“ (S. 189) – aber das sollte dann auch pythagoreische Zahlenmystik zur Wissenschaft machen. Was der eigentliche Inhalt der Objektivierung ist, das zu erfassen ist seiner Philosophie verwehrt. Fleck kann sich nur bei Formalien aufhalten. Überdies ist es Unfug, denn natürlich ändert sich auch die Bedeutung wissenschaftlicher Begriffe – im Gegensatz zu dem proklamierten Aeternismus religiöser Begriffe. Die „Verehrung der Zahl“ stammt nicht aus dem Pythagoreismus, sondern aus der Bemühung um Vergleichbarkeit, Reproduzierbarkeit. Und der Maßstab der Wissenschaft ist nicht das „Maximum gegenseitiger Beziehungen“ (S. 189), sondern die Nähe zur Wirklichkeit, welche unauslotbar komplex ist – kein Grund, sie nicht anzustreben.

Summa summarum: das Buch ist enttäuschend, gemessen an der Bugwelle, die es macht, und es ist erstaunlich, wieviel Weitschweifigkeit Fleck in dessem geringen Umfang unterzubringen in der Lage war (boring repetitions, sagt Bunge [6]). Dies ist der Leitstern nicht nur der medizinischen Soziologie des 21. Jahrhunderts. Es sollte zurück in das behagliche Asyl, das es die ersten Jahrzehnte seiner Existenz bewohnt hat. Frau Doktor Dana Mahr – und mit ihr alle Fleck-Verehrer in Soziologie und Wissenschaftsphilosophie -: zurück auf die Schulbank!

Wilhelm Busch: Der Katzenjammer am Neujahrsmorgen

Der Dichter und Zeichner Robert Gernhardt (Vom Wettlauf zwischen Hase Hochkunst und Igel Karikatur) stellt fest, dass Wilhelm Busch hier den Konstruktivismus vorweggenommen hat.

Teil 5


  1. : „Odilon Schreger: Studiosus jovialis, Pedeponti, 1755“: Es ist nicht plausibel, dass das um die Mitte des 18. Jahrhunderts Spitzenwissenschaft (oder überhaupt Wissenschaft) gewesen ist. Galilei, Boyle und Newton waren lange tot; das war die Zeit Buffons und Reimarus‘, der Encyclopedie, Holbachs und Diderots. Odilon Schreger kommt in den Lexika nicht vor, und älteren medizinhistorischen Übersichten ist er nicht einmal eine Fußnote wert. Er hat kaum Google-Treffer, und 3/4 von ihnen gehen auf Fleck zurück. Es wäre kein Problem, auch heutige Esoterik gleicher Qualität aufzutreiben, denken wir nur an Steiner. – „Joseph Löw: Über den Urin, Landhut 1815“: Fleck glaubt zu wissen, dass dieser seine verstiegene Metaphorik für „einfache Naturbetrachtung“ gehalten habe, „genau wie heute viele Naturforscher die ihrige.“ – Das muss man keineswegs für ausgemacht halten. Er könnte auch nur alte Schwarten abgekupfert und ein bisschen mit Neologismen aufgehübscht haben, um die Leser mit seiner Beobachtungskunst und Gelehrsamkeit zu beeindrucken. Ein wenig Übertreibung wird doch wohl erlaubt sein. Hat er denn keine medizinischen Autoritäten, von Galen angefangen, zitiert?
  2. : Mario Bunge: „Ludwik Fleck: Genesis and Development of a Scientific Fact. Edited by T. J. Trenn & R. K. Merton. Translated by F. Bradley & T. J. Trenn. Foreword by T. S. Kuhn. Chicago: The University of Chicago Press, 1979, 203 pp.“ Behavioral Science, 26(2) 1981, 178–180. doi:10.1002/bs.3830260211

Befleckte Medizinsoziologie 5

$
0
0

Teil 5 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
Teil 4 ← | → Teil 6

3. Kapitel: Über die Wassermann-Reaktion und ihre Entdeckung

Die Wassermann-Reaktion ist eine heute wegen ungenügender Spezifität verlassene Labormethode zur Diagnose der Syphilis aus dem Blutserum.

Die Reaktion hat ein fixes Schema, doch wird sie in so vielen Modifikationen ausgeführt als es ausführende Laboratorien gibt. Sie fußt auf genauen quantitativen Berechnungen, doch ist immer der klinische Blick, das »serologische Fühlen« viel wichtiger als Berechnung. (S. 73)

Die heutige Laboratoriumsdiagnostik mit ihrer automatisierten Probenverarbeitung, ihren standardisierten Reagenzien, ihren qualitätssichernden Ringversuchen usw. hat sich weit, weit davon entfernt, zumindest was die Routinediagnostik angeht. Die Wissenschaft war vergleichsweise erfolgreich darin, die Züge der Kunst, der Erfahrung abzulegen und die der Objektivität, der Unabhängigkeit vom Untersucher, anzustreben. Das „serologische Fühlen“ meint vermutlich so etwas wie zu beurteilen, ob eine schwache Färbung nun als positiver oder negativer Befund zu bewerten ist – so etwas schreit aber nicht nach Kunst, sondern nach Spektrometrie. Und was die i. e. S. klinische Erfahrung des Testers angeht: sie sollte prinzipiell nicht in die Ablesung des Ergebnisses, ob positiv oder negativ, eingehen – erst die Interpretation des Ergebnisses ist Sache des Klinikers. Ein besseres Beispiel wäre heute vielleicht das EEG, das von Berger 1928 entdeckt wurde und sich der völlig digitalen Auswertung weiterhin hartnäckig verweigert. Aber man kann bezweifeln, dass sie prinzipiell nicht automatisierbar ist.

Im folgenden gibt Fleck eine – noch heute lesenswerte – Einführungsvorlesung in die Immunologie von Julius Citron (1910) wieder, die er anschließend ausführlich kritisiert. Aber seine Kritik ist nur holistische Naturphilosophie statt empirisch fundierter Gegendarstellung. Gemessen am Ziel der Widerlegung von Citron und der „materialistische[n] Theorie“ vom Organismus als eine „in sich abgeschlossene, selbständige Einheit“ (S. 80), die dessen Darstellung zugrunde liege, ist sie ein Gish-Galopp. Fleck behauptet:

„1. Der Begriff der Infektionskrankheit“ sei nur ein Ausdruck „primitive(r) Kampfbilder“, die Vorstellung von einer „‚Ursache‘ der Krankheit“ müsse aufgegeben werden (S. 79).
„2. Folglich muß der Begriff der Immunität in jenem klassischen Sinne aufgegeben werden.“ (S. 83)
„3. […] Die Einteilung in humorale und zelluläre Faktoren (der französische Ritus schreibt den zweiten, der deutsche den ersten größeres Gewicht zu) ist nicht legitimierbar. Desgleichen der Begriff der Spezifität in diesem gebrauchten Sinne. Ein ausgesprochen mystischer Begriff!“ (S. 84).
„4. Auch eine methodische Einweihung enthält die Vorlesung von Citron […] Alle diese Vergleichungen kontrollieren den Schluß und heißen ‚Kontrollen‘. Gewiß, es ist nicht die erkenntnistheoretisch beste Methode, doch haben wir bis heute keine andere.“ (S. 84) [kursiv im Original]

Antikörper, humorale und zelluläre Faktoren und Spezifität sind die Grundbegriffe der Immunologie geblieben, so wie Kraft noch immer Masse mal Beschleunigung ist, trotz Relativitätstheorie. Kein Wunder, dass das ganze Buch nach seinem Erscheinen völlig in der Versenkung verschwunden und erst 30 Jahre später von dem Nichtmediziner Kuhn wiederentdeckt worden ist. Es hätte Kuhn Abbruch getan, wenn es sogleich in englisch verfügbar gewesen wäre (als die Übersetzung erschien, war die wissenschaftshistorische Öffentlichkeit schon im Kuhnschen Sinne paradigmatisch transformiert, so dass es ihm nicht mehr geschadet hat). Die herabsetzende Wortwahl („Ritus“, „mystisch“) deutet an: Fleck sieht keinen wesentlichen Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion. Im Gegenteil: er sucht die Gemeinsamkeit, eine prinzipielle Identität des „Denkstils“. Auch darauf werden wir kurz zurückkommen. Kontrollen sind für Fleck ein leider notwendiges Übel, erkenntnistheoretisch anrüchig. Doch wenn es keine andere Methode gibt, dann ist die vorhandene zwangsläufig die beste – das ist eine Tautologie. Die Kontrollen (Leerversuche) sind nicht das lästige aber unvermeidliche Beiwerk, sondern der Inbegriff der Wissenschaftlichkeit, der Königsweg zur Absicherung gegen Fehlschlüsse aus zufälligen Beobachtungen. Fleck hat nicht nur nachlässig formuliert, sondern eine großartige Gelegenheit verpasst, über Methodologie in der biologischen Forschung zu sprechen. Ihm muss dunkel bewusst gewesen sein, dass seine Vorstellung von Fortschritt via „Denkstil“ gewisse Mängel aufweist.

Was hat Citron wirklich gesagt? Beispielsweise dies:

Die chemische Natur der Antikörper ist unbekannt. Wir wissen nicht einmal, ob das, was wir Antikörper nennen, überhaupt selbständige chemische Gebilde darstellen. Wir kennen nur Serumwirkungen. Die in Gedanken vollzogene Materialisierung dieser Serumwirkungen stellen die Antikörper dar.

Eine funktionelle Definition des Antikörpers, die völlig kompatibel ist mit der Strukturaufklärung heute. Oder dies:

Ich selbst habe es mir zur Regel gemacht, und ich empfehle Ihnen das gleiche, bei der Lektüre neuer wissenschaftlicher Mitteilungen aus dem Gebiet der Serodiagnostik zuerst auf die angeführten Kontrollen zu sehen. Sind diese ungenügend, dann ist der Wert der Arbeit, mag darin was immer enthalten sein, zunächst ein sehr geringer, denn alle Angaben können zwar, müssen aber nicht richtig sein.

Eine Regel, die hundert Jahre später noch immer uneingeschränkt empfohlen werden kann. Wie vielversprechend auch der Titel einer wissenschaftlichen Arbeit sein mag: Man lese zuerst Material & Methode, und wenn interessant sein könnte, was man auf diese Weise herauszufinden kann, dann ist es eine genaue Lektüre wert.

Im Folgenden stellt Fleck ausführlich die Geschichte der Unterstützung Wassermanns durch die preußischen Behörden dar, sowie als deren soziales Motiv, als eigentliche Triebkraft der Entwicklung, die nationale Konkurrenz zwischen Frankreich und Deutschland (S. 90). Sicher. Wenn die Forscher nicht das Geld für die Reagenzien gehabt hätten, wäre es nichts mit der Entdeckung der Wassermann-Reaktion geworden. Und sie mussten vom Ministerium die Idee empfangen, so wie dem Denkkollektiv der TCM-Protagonisten die Richtung vom Großen Führer Mao gewiesen worden ist. Aber abgesehen davon, dass Röntgen mit der behördlichen Rückendeckung offenbar weniger glücklich gewesen ist (s. v.): so ganz hinreichend kann die staatlich gelenkte Erleuchtung nicht sein, denn sonst würden wir alle heute Lyssenko als größten Biologen des 20. Jhd. verehren. Man muss da gar nicht auf die mittelalterlichen bis frühneuzeitlichen Alchimisten verweisen, die alle Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen haben, um Stroh zu Gold zu spinnen.

Die einzig mögliche Folgerung aus dieser Geschichte der Wassermann-Reaktion ist: Extrinsische Motivation kann helfen, aber sie ersetzt keine wissenschaftliche Neugier, und sie ist nicht einmal eine zusätzliche Bedingung, ohne die nichts geht. Möglich, dass es nie eine Wassermann-Reaktion gegeben hätte (sie ist wegen ihrer nicht ausreichenden Spezifität wieder aufgegeben worden), doch wäre es auch ohne Ermutigung durch die preußische Bürokratie zur Entwicklung der modernen Immunologie gekommen, wenn auch vielleicht später oder anders. Die Proteinstruktur des Antikörpers, die Funktion der Lymphozyten entzieht sich ihrem Einfluss. „Die Winkelsumme im Dreieck kann nicht nach den Bedürfnissen der Kurie abgeändert werden“ (Brecht).

Teil 4 ← | → Teil 6

Befleckte Medizinsoziologie 4

$
0
0

Teil 4 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
Teil 3 ← | → Teil 5

2. Kapitel: Erkenntnistheoretische Folgerungen aus der vorgebrachten Geschichte eines Begriffes

[M]an darf die Syphilis nicht formulieren als »die durch Spiroch. pallida hervorgerufene Krankheit«, sondern umgekehrt, muß Spiroch. pallida als »der zur Syphilis Beziehung habende Mikroorganismus« bezeichnet werden. Eine andere Definition dieses Mikroben ist aussichtslos und außerdem könnte die Krankheit dadurch nicht eindeutig definiert werden […] Auch der heutige Begriff der Krankheitseinheit z. B. ist Entwicklungsergebnis und nicht die logisch einzige Möglichkeit. Man kann nicht nur vollkommen andersartige Krankheitseinteilungen einführen, wie es die Geschichte lehrt, aber man kann auch überhaupt ohne den Begriff einer Krankheitseinheit auskommen. (S. 32)

Wenn das die Kernannahme ist: sie ist disqualifizierend. Fleck spricht von den „verschiedenen Stadien“ wie auch den „verschiedenen Kranken“, die „immer anders“ zu behandeln seien, und das sei „nicht impraktisch“ (S. 32); aber wir reden – speziell hier – von einer bakteriellen Infektionskrankheit. Der ätiologische, d. h. an der Krankheitsursache und den Pathomechanismen orientierte, Krankheitsbegriff ist nicht wahlfrei und dem symptomatischen qualitativ gleichwertig. Der „tiefere Sinn des symptomatischen Krankheitsbegriffs“ wäre die Rückkehr zum Mystizismus.

Die numerische Methode, die quantitative, vergleichende Erfassung des Behandlungserfolgs (eingeführt von P. C. A. Louis, 1787–1872), lässt sich nicht mit dem zwangsläufigen Voluntarismus einer solchen „individuellen“ Medizin vereinbaren, und sie war damals schon einhundert Jahre alt (wenn auch noch nicht überall akzeptiert). Diese Methode ist die Hauptstraße zum Fortschritt in der klinischen Medizin. Dagegen entspräche eine Klassifikation wie „Krankheiten, die zu Hautausschlag führen“ usw. im Kern einer Einteilung der Tiere in welche, die fliegen, welche, die schwimmen u.ä. Selbstverständlich kann man mit ähnlich gelagerten oder gänzlich fiktiven Krankheitseinheiten auskommen – die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) führt es vor. Mit Wissenschaft hat das nichts zu tun.

„Der Begriff der Syphilis muß wie ein denkhistorisches Ereignis, wie ein Ergebnis der Entwicklung und des Zusammentreffens einiger kollektiver Denklinien untersucht werden“, sagt Fleck (S. 34). – Mag sein. Es gibt andere kollektive Denklinien. In manchen Kulturkreisen ist man der Ansicht, dass westliche Ärzte handwerklich ganz brauchbar sein mögen, aber die wirklichen Probleme nicht lösen könnten, denn sie wüssten nicht, wie man Geister vertreibt (Sidky, Shamanism). Hat man den Begriff der Syphilis als reine Gedankenarbeit, Wesensschau entwickelt, oder haben sich die Gedanken auf empirische Untersuchungen gestützt? „[D]ie Bezeichnung ‚Existenz'“ der Syphilis dürfe man „nur als denktechnisches Hilfsmittel, als bequeme Abkürzung zu gebrauchen“ (S. 34). Aber wofür steht diese Abkürzung, die man nur in Gänsefüßchen setzen darf?

Der Begriff der Syphilis lasse sich auf eine „Uridee“ zurückführen. „Auch andere Lehren, wie […] der Satz von der Kugelgestalt der Erde und das heliozentrische System, entwickelten sich historisch aus mehr oder weniger unklaren Urideen“ (S. 36). Aber man kann sicher sein, dass noch eine Unzahl mehr Urideen z. B. zur Erdgestalt gewabert haben, vgl. etwa das Schachteluniversum des Kosmas Indikopleustes. Im weiteren (S. 38 u. ö.) wird deutlich, dass Fleck die Vorstellung von einer approximativen, näherungsweisen Wahrheit unbekannt geblieben ist. Fleck hält die Kochschen Postulate (zur Identifizierung eines Krankheitserregers) als Ausdruck einer Spezifitätslehre für veraltet und meint, es werde sich zeigen, „daß die klassische Infektion, d. h. die Invasion eines Erregers, ein Ausnahmefall des Mechanismus der Entstehung einer Infektion ist“ (S. 43). Das ist schlicht falsch. Natürlich ist die Infektiologie inzwischen komplizierter als zu Kochs Zeiten, aber seine Postulate sind modifiziert weiterhin grundlegend [WP]. Der Infektiologe Mark Crislip von SBM beschreibt seine Tätigkeit so: “Me find bug. Me kill bug. Me go home.”

In Abschnitt 3 des Kapitels zitiert Fleck ausführlich Paracelsus, der uns heute unverständlich sei, aber einen in sich geschlossenen „Denkstil“ repräsentiere (S. 45f). Die Kuhnsche „Inkommensurabilität“ hat hier ihr Samenkorn, sogar der Terminus geht auf Fleck zurück (s. 83). Was aber diesen Denkstil als zeitgenössische Wissenschaft ausgezeichnet hat oder haben soll, und was ihn von späterer Wissenschaft unterscheidet, das wird nicht erörtert. Auch in anatomischen Werken sieht er fiktive Strukturen, die er auf überkommene Konzepte zurückführt (S. 47f). – Doch es ist letztlich banal, dass es auch nach Vesal in der Anatomie noch „theoriegeleitete“ Irrtümer gegeben hat, der Autorität der Überlieferung geschuldet. Sie kommen nicht aus zu viel, sondern aus zu wenig Wissenschaftlichkeit. In einer Fleck näheren Sprache: das ist kein Geburtsfehler des wissenschaftlichen Denkstils, sondern, im Gegenteil, Folge mangelner empirischer Kontrolle. Wir kommen noch einmal darauf zurück. Fleck dagegen meint, folgernd aus einer Darstellung der weiblichen Genitalien, die auch in heutigen Atlanten idealisiert sei:

Doch der Weg von der Sektion bis zur formulierten Lehre ist so verwickelt, so wenig unmittelbar, so sehr kulturbedingt. Je eindringlicher wir ihn uns vergegenwärtigen, um so zahlreichere denkgeschichtliche, psychologische und zu den Autoren führende Beziehungen treten uns entgegen. In der Naturwissenschaft gibt es gleichwie in der Kunst und im Leben keine andere Naturtreue als die Kulturtreue.

Darin ist nur ein Körnchen Wahrheit: ein ungeleiteter Blick wird nichts erkennen. In der Tat gibt es von Frau zu Frau auch noch unübersehbar viele individuelle Varianten in Lage und Form der Genitalien. Ist das ein Argument gegen die Annahme, dass Uterus, Ovarien, Tuben unabhängig von der Wissbegier der Anatomen existieren, dass sie gemeinsame Charakteristika haben, und dass diese Charakteristika von Vesal besser als von Galen erfasst worden sind? Die Kultur hat Vesal in die Lage versetzt, sie zu beschreiben, – indem sie es ihm z. B. (mehr oder weniger) gestattete, Menschen zu sezieren statt Tiere – aber sie hat Vesal nicht seine Erkenntnisse diktiert. Theoriegeleitet ist eine Beobachtung immer, aber es kommt darauf an, worauf sich die Theorie stützt.

Der Satz »Schaudinn hat Spir. pallida als den Erreger der Syphilis erkannt« entbehrt ohne weiteren Zusatz eindeutigen Sinnes, denn »Syphilis an sich« existiert nicht. (S. 55)

Das ist ein klarer Fall von Tuberkelbazillus, „das vor Koch keine wirkliche Existenz“ hatte (dies war die Antwort von Bruno Latour auf die Frage, ob Ramses II an Tuberkulose gestorben ist). Den Werdegang der Akzeptanz Schaudinns stellt Fleck wissenschaftshistorisch falsch dar.[4] Am Erkennen seien „drei Faktoren“ beteiligt, „und zwar das Individuum, das Kollektiv und die objektive Wirklichkeit“ und es ließen sich ein „oder vielleicht auch zwei Faktoren“ aus dem Erkenntnisprozess eliminieren (S. 57) – Und so gelingt es Fleck, die objektive Wirklichkeit rückstandsfrei aufzulösen.

Es folgen noch zahlreiche weitere philosophisch fragwürdige Thesen. Ich greife hier nur noch ein Beispiel heraus:

Nach einer Reihe Rundgänge innerhalb der Gemeinschaft, kehrt oft eine Erkenntnis wesentlich verändert zum ersten Verfasser zurück – und auch er sieht sie schon ganz anders an, erkennt sie nicht als seine eigene oder (ein häufiges Geschehen) glaubt sie ursprünglich in der jetzigen Gestalt gesehen zu haben. (S. 58f)

Dafür gibt es plastische und literaturnotorische Beispiele: Lukian hatte die Geschichte der Himmelfahrt des Peregrinus Proteus erfunden (§§ 39, 40) und Yossarian diejenige von dem Lepage-Geschütz, das ganze Bomberverbände in der Luft zusammengeleimte – nur dass Lukian nicht wie Yossarian erbleichte, sondern sich belustigte, als er sie wieder hörte. Aber Yossarian war betrunken.

Teil 3 ← | → Teil 5


  1. : Jean Lindenmann: Siegel, Schaudinn, Fleck and the Etiology
    of Syphilis
    . Stud. Hist. Phil. Biol. & Biomed. Sci., Vol. 32, No. 3, pp. 435–455, 2001

Befleckte Medizinsoziologie 3

$
0
0

Teil 3 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
Teil 2 ← | → Teil 4

Einige Details

Flecks Buch ist nicht umfangreich. Es umfasst 190 Seiten und ist in vier Kapitel gegliedert, aus denen wir eine Blütenlese charakteristischer Behauptungen untersuchen wollen. Wir benutzen die 9. Auflage 2012 (erste Auflage 1980) der bei Suhrkamp in Frankfurt/M. erschienenen Ausgabe, die zur Erstausgabe 1935 textidentisch ist. Die ersten Worte sind:

Was ist eine Tatsache?
Man stellt sie als Feststehendes, Bleibendes, vom subjektiven Meinen des Forschers Unabhängiges den vergänglichen Theorien gegenüber.

Schon dieser Satz, so global und unschuldig wie er klingt, ist zweifelhaft. Tatsachen müssen nicht feststehend oder bleibend sein; wenn es zutrifft, dann für Naturgesetzlichkeiten – schon für ihre Repräsentation, ihre wissenschaftliche Formulierung, gilt das nicht mehr, aber warum sollten selbst letztere nicht objektiv sein können. Es ist ein Fakt, dass ein Glas auf dem Tisch steht – solange, bis ich es in die Küche bringe. Vergänglichkeit ist nicht dasselbe wie „subjektives Meinen“. Tatsachen wie diejenige, dass der Mensch zwei Augen hat, nennt Fleck „passiv“, man wisse nicht mehr, wie man zu dieser Ansicht gekommen sei, und solche Tatsachen würden einen Zwang ausüben (S. 1). – In der Psychiatrie bedeutet „Zwanghaftigkeit“ ein Festhalten an Gedanken/Handlungen wider besseres Wissen; weiß der Mensch, dass er nicht zwei Augen hat? Solche terminologischen Unbestimmtheiten ziehen sich durch den gesamten Text.

1. Kapitel: Wie der heutige Syphilisbegriff entstand

Fleck schildert die historische Entwicklung, die allmähliche Differenzierung der vorwissenschaftlichen Ansichten von der Lustseuche. Ihre „sozialpsychische und geschichtliche Begründung war so stark, daß es vierhundert Jahre brauchte,“ bis die moderne wissenschaftliche Auffassung von dieser erregerbedingten Krankheitseinheit entstand (dies ist nicht die Ausdrucksweise Flecks, wir kürzen hier nur ab). „Diese Beharrungstendenz beweist, daß keine sogenannten empirischen Beobachtungen den Aufbau und die Fixierung der Idee durchführten, sondern daß spezielle, tief aus dem Psychischen und der Tradition kommende Faktoren mitspielten.“ (S. 6, kursiv vom Verf.) – Die Rolle empirischer Faktoren bei der Erarbeitung eines wissenschaftlichen Konzepts wird systematisch teils ignoriert, teils abgewertet, und auch diese Tendenz zieht sich durch den Text.

Teil 2 ← | → Teil 4

Befleckte Medizinsoziologie 2

$
0
0

Teil 2 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
Teil 1 ← | → Teil 3

Historisches und Grundsätzliches

Ludwik Fleck (1896-1961) war ein polnischer Mikrobiologe und Immunologe. Sein Buch „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ ist 1935 erschienen. Es hatte einige zeitgenössische Rezensionen in der Fachpresse, aber es wurden nur etwa 200 Exemplare verkauft.[1] Man könnte auch sagen, er sei seiner Zeit voraus gewesen, denn 1962 schrieb Thomas S. Kuhn im Vorwort seiner „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“, dass Fleck viele seiner eigenen Gedanken vorweggenommen habe; er hatte den Literaturhinweis aus einer Fußnote bei Hans Reichenbach 1938 aufgelesen. Der Erfolg von Kuhn leitete eine Fleck-Renaissance ein, und 1979 erschien eine englische Übersetzung. Inzwischen gab es Symposien zu Fleck, und er gilt in der Wikipedia als „Vordenker der Historischen Epistemologie“.

Wie ist es dazu gekommen? Fleck schreibt (S. 40):

Nicht um bloße Trägheit handelt es sich oder Vorsicht vor Neuerungen, sondern um eine aktive Vorgehensweise, die in einige Grade zerfällt:

  1. Ein Widerspruch gegen das System erscheint undenkbar.
  2. Was in das System nicht hineinpaßt, bleibt ungesehen, oder
  3. es wird verschwiegen, auch wenn es bekannt ist, oder
  4. es wird mittels großer Kraftanstrengung dem Systeme nicht widersprechend erklärt.
  5. Man sieht, beschreibt und bildet sogar Sachverhalte ab, die den herrschenden Anschauungen entsprechen, d. h. die sozusagen ihre Realisierung sind – trotz aller Rechte widersprechender Anschauungen.

Das ist die vollständige Wissenschaftsphilosophie Kuhns mit Paradigmenwechsel usw. in ihrer Keimform, und Kuhn hätte das mehr wert gewesen sein müssen als eine ehrende aber beiläufige Erwähnung in seinem Vorwort. Kuhns eigener – nahezu beispielloser – Erfolg „stammt aus einer Vermengung des Deskriptiven mit dem Präskriptiven: aus der beständigen Weigerung, zwischen der Geschichte oder Soziologie der Wissenschaft und der Logik oder der Philosophie der Wissenschaft zu unterscheiden.“[2] Der Erfolg dieser Wissenschaftstheorie war nicht zwangsläufig, denn auch sie hatte mit der Verstocktheit der Ewiggestrigen zu kämpfen. Der Psychiater Eugen Bleuler (1857-1939) hatte den Widerstand gegen das Neue in der Wissenschaft zuvor ein wenig prosaischer und gewitzter geschildert:

Bei der Ablehnung neuer Ideen macht natürlich die Bequemlichkeit nicht wenig aus. Man muß wieder umdenken, alles in neue Zusammenhänge bringen, ev. neue Behandlungsmethoden erlernen, die man nicht gleich in ihrer ganzen Bedeutung erfassen kann. Das Neue hat eben immer einen gewissen unangenehmen Beiklang, wenn man wenigstens nicht mit dem Alten ganz unzufrieden gewesen ist. So kann es kommen, daß die Spitzen des Gesundheitswesens eines großen, erleuchteten Staates auf offizielle Anfrage hin einige Zeit nach Entdeckung der Röntgenstrahlen erklärten, diese haben keine besondere Bedeutung für die Militärsanität. Das ist der Misoneismus [Hass gegen das Neue] des Philisters.

Und weitere soziale Aspekte unterschlägt er nicht. Anlässlich von Semmelweis meint er:

Für den, der sich mit oder ohne Grund zu den Führenden zählt, ist es aber auch nicht angenehm zu konstatieren, daß ein anderer der Gescheitere war; ja darin, daß man sich mit den gegenwärtigen Zuständen zufrieden gegeben hatte, liegt ein Vorwurf gegen sich selber. [3]

Teil 1 ← | → Teil 3


  1. : Jürgen Mittelstraß (hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Metzler, 2005, Bd. 2 S. 512f
  2. : „this irrationalism stems from the conflation […] of the descriptive with the prescriptive: from his steady refusal to distinguish the history or sociology of science from the logic or philosophy of science.“ (David Stove: Popper And After, Pergamon Press 1982, S. 4)
  3. : Eugen Bleuler: Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung, Berlin, 2. Aufl. 1921, S. 43

Befleckte Medizinsoziologie 1

$
0
0

Der Anlass

Frau Doktor Dana Mahr, Medizinsoziologin in Genf, hat erneut ihre Einstellungen bzgl. der aktuellen Gender/Trans-Debatte bekannt gegeben (hier). Im Rahmen dessen erwähnt sie auch Frau Nüsslein-Volhard, die zuvor einige Dinge zurechtgerückt hatte (hier). Mahr schreibt:

Diese sehr eindeutige, sehr vereinfachende Sicht auf das menschliche Geschlecht sagt weniger über die Biologie des Menschen als über die wissenschaftliche Sozialisation von Frau Nüsslein-Volhard aus. Denn einerseits war ihre Hauptschaffensphase in den 1970er und 1980er Jahren (in der es das Feld der Systembiologie noch nicht gab), und andererseits fokussierte sich ihre Forschung auf Modellorganismen wie Zebrafische und Fruchtfliegen.

Die Nobelpreisträgerin hat die letzten 40+ Jahre ihrer Wissenschaft verpennt und hatte auch vorher schon keine Ahnung.

Aber es bleiben Unklarheiten. Als Begründer der „Systembiologie“ gelten Hodgkin und Huxley 1952. Und zuvor hatte Mahr (hier) Frau Marie-Luise Vollbrecht vorgeworfen, dass sie nicht über „gewisse Schleimarten oder Pilze gesprochen“ habe, „die in einem sehr generellen Sinn die Tendenz zur Zweigeschlechtlichkeit unterlaufen“ würden, was ein sicheres Zeichen der Transfeindlichkeit und des Rechtsextremismus gewesen sei. Es ist also nicht so, dass der Blick auf niedere Lebewesen zu verachten ist – es muss nur der richtige, nämlich der soziologische, sein.

Ein so krachendes Scheitern eines klassischen ad hominems (Sonderform des genetic fallacy, Abwehr von Sachargumenten mittels Hinweis auf ihre Herkunft) sieht man nicht häufig. Glückwunsch, Frau Mahr! Die Frage drängt sich auf, wie eine solch überragende Qualifikation erworben werden konnte, und das ist leicht zu prüfen. Eingangs des zitierten Texts wird herausgestellt, dass 2021 ihr Buch „The Knowledge of Experience. Exploring epistemic diversity in digital health, participatory medicine, and environmental research“ erschienen ist. Werfen wir einen Blick hinein. Da gibt es ein Kapitel ,,2.2 What Are Scientific Facts?“. Es handelt sich um eine mäandernde Plauderei, in der etwas Definitionsähnliches nicht zu finden ist, dafür aber der Hinweis darauf, dass wissenschaftliche Fakten ein „Amalgam von empirischen, methodischen, technologischen, sozialen, räumlichen und historischen Faktoren“ seien. Zur theoretischen „Begründung“ verweist sie ausführlich auf Ludwik Fleck, der in seinem Buch „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ 1935 erstmals auf die soziale Seite wissenschaftlicher Fakten hingewiesen habe.

Eine andere Façette des wissenschaftlichen Outputs von Dana Mahr hatten wir in unserem Forum berührt (hier, hier). Im folgenden soll es jedoch um das Buch von Ludwik Fleck gehen, zumal sich auch der bekannte Professor Harald Walach (Ritter der Homöopathie, Entdecker der schwachen Quantentheorie, Priester des Kozyrev-Spiegels, Corona-Zweifler usw. usf.) darauf beruft.

Teil 1 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
Teil 2

Editiert 24.09.2022. In der ursprünglichen Version wurde der akademische Grad von Dana Mahr und der Vornamen von Marie-Luise Vollbrecht falsch wiedergegeben. Peinlich. Wir bitten um Entschuldigung.


Soziologisches zu Cannabis als Medizin

$
0
0

Die Soziologin Frau Prof. Dr. habil. Gundula Barsch, Hochschule Merseburg, sieht (hier) eine beklagenswerte Unterversorgung der deutschen Bevölkerung mit Cannabis. Aber sie sieht auch einen Ausweg. Wir wollen herausfinden, was es mit dieser Bestandsaufnahme, die zwei Druckseiten einer überregionalen linken Tageszeitung einnimmt, auf sich hat.

Zunächst schildert sie die aktuelle Situation. Da sei einmal die „dürftige Informationslage“: es existierten „weder verlässliche Anwendungsempfehlungen noch durch die Ärztekammern anerkannte Fortbildungsangebote.“ – niemand kann widersprechen. Die Ärzte fürchteten Regresse und den bürokratischen Aufwand. Die Kassen würden nur in gut 60% der Fälle die Anwendung genehmigen, und begründet werde die Ablehnung der Kostenübernahme häufig mit dem „pauschalen Verweis auf den ‚fehlenden Nachweis der Wirksamkeit‘ (dpa 2017) – obwohl das Gesetz den Krankenkassen eine Ablehnung eigentlich ’nur in begründeten Ausnahmefällen'“ einräume.

Hinzu kommt, dass der Einsatz insbesondere von Cannabisblüten gegenläufig zu den aktuellen Entwicklungen in der modernen naturwissenschaftlichen Biomedizin steht. Diese operiert nach den Leitideen der evidenzbasierten Medizin, die auf die Erbringung klarer Kausalitäten und standardisierter Verabreichungen möglichst über aufwändige klinische Studien bestehen. Der Cannabistherapie wird hier zum einen das im Gesundheitssystem etablierte Patentwesen, zum anderen der bürokratisch erzeugte und eingeforderte, oft sehr kostspielige Status hoher klinischer Evidenz zum Verhängnis. Dieser Status ist letztendlich auf Strukturkonservatismus und Besitzstandswahrung ausgerichtet und grenzt ernstzunehmende medizinische Erfahrungen ebenso aus wie bestens belegte, effektive Präventions- und Therapiemöglichkeiten.

Hier sind einige Klarstellungen erforderlich. Die erste Frage ist nicht die nach „verlässlichen Anwendungsempfehlungen“ (d. h. zum Wie der Verordnung), sondern die nach der Indikation (dem Warum der Verordnung). Evidenzbasierte Medizin (EBM) ist der einzig sichere Weg, solche Indikationen herauszuarbeiten. Sie deckt nicht Kausalitäten auf, sondern sichert den Nutzen der fraglichen Therapie durch vergleichende Beurteilung des Therapieerfolgs unter Benutzung vordefinierter Kriterien; „Biomedizin“ ist hier nur soziologischer Slang. Barsch lässt offen, was sie mit „effektive[n] Präventions- und Therapiemöglichkeiten“ eigentlich meint. Wie könnten „beste Belege“ außerhalb der EBM aussehen (man ahnt es), und welchen Krankheiten könnte man mit Cannabis vorbeugen? Nebenbei: die Widerspenstigkeit der Kassen, dem Gesetzesgebot zu folgen und die Kostenübernahme nur im Ausnahmefall abzulehnen, ist Folge der inkonsistenten Rechtslage, die zudem nicht mit der Datenlage übereinstimmt (mehr Details hier, hier, hier). Die Erkenntnis, dass der „Strukturkonservatismus“ der EBM verhängnisvoll ist, wird von den Glaubensmedizinern jeglicher Couleur, von denen unser Wiki voll ist, beklatscht werden. Der Mangel an „Fortbildungsangeboten“ allerdings könnte dennoch behoben werden, denn einige Ärztekammern bieten weiterhin Homöopathie an. Das wäre also kein Systembruch. Und welchen „Besitz“ sollte die Medizin aufgeben? Dazu am Schluss noch eine Vermutung.

Überdies ist es irreführend, die nötige klinische Evidenz als „sehr kostspielig“ zu bezeichnen: es geht hier nur um einen organisatorischen Aufwand. Es gibt bereits viele – teils kontrollierte – Cannabis-Studien, die wissenschaftlichen Kriterien (mehr oder weniger) genügen, sowie einige Metaanalysen. Doch sind die vorliegenden Ergebnisse so wenig aufregend, dass es sich offenbar nicht lohnt, eine stringentere, aufwändigere Methodik zu bemühen. Oder anders: gewöhnlich ist ein Therapieeffekt um so beeindruckender, je laxer die Prüfungsmethode ist, und hier reicht die Schubkraft der ersten Stufe nicht hin, vom Boden abzuheben, geschweige denn eine Umlaufbahn zu erreichen.

Alles in allem unterstreichen die gegenwärtigen Entwicklungen rund um die Cannabistherapie die Dringlichkeit, dem alten medizinischen Leitprinzips »Wer heilt, hat Recht« wieder Raum zu geben – etwas, das den durchaus ehrenwerten Bestrebungen evidenzbasierter Medizin keineswegs entgegenstehen muss.

Wer heult hat recht. Das ist der Refrain der Wunderheiler und Scharlatane, darauf reimt sich alles. Es ist der „vielleicht dümmste Spruch in der Geschichte der deutschen Medizin“, sagt Edzard Ernst (hier). EBM ist „durchaus ehrenwert“, aber doch ein bisschen zurückgeblieben – auch dies keine neue Erkenntnis. Professorenkollege Walach hatte sie bereits weiter ausformuliert und angewendet, als er davon sprach, dass der Durchschnittswissenschaftler Homöopathie für Placebo halte (vgl. hier). Und was heißt „wieder“? Ist das die Gelegenheit, den Energieerhaltungssatz beiseite zu legen (vgl. hier), wie es Soziologen offenbar für möglich halten?

Kommen wir zu dem Ausweg aus dieser verfahrenen Situation, den Frau Barsch für erfolgversprechend hält:

Übersehenes Erfahrungswissen […] haben sozialwissenschaftliche Forschungen seit den 1990er Jahren immer wieder Belege dafür gefunden, dass Patient*innen und Leidende den Gewinn einer Cannabistherapie beim Umgang mit ihren schwierigen Lebenssituationen für so hoch einstufen, dass sie für die Beschaffung dieses Hilfsmittels selbst Strafverfolgung, Stigmatisierung durch ihr soziales Umfeld und unberechenbare Probleme auf sich nehmen. …

… Ist das ernstgemeint, Frau Prof. Barsch? Wie steht es eigentlich mit den Forschungsergebnissen zu Opioiden? Sind diese Patient*innen nicht auch in einer schwierigen Lebenssituation, nehmen sie nicht auch Strafverfolgung, Stigmatisierung und unberechenbare Probleme auf sich?

Aber es bleibt nicht bei Allgemeinplätzen, denn die Soziologen bekommen ihr Geld nicht für Nichtstun und Schwafeln. Sie haben eine Datenbank „INDICA“ begründet, die einen „Fundus von Interviews“ liefere, der „höchst interessante Einblicke in eine zum großen Teil selbstinitiierte Behandlung mit Vollspektrum-Cannabis und CBD“ vermittle und eine „überraschende Breite an Anwendungsmöglichkeiten“ aufzeige. Doch es überrascht, dass die Forschung hier überrascht ist, denn was sollte man nicht mit Cannabis behandeln können. Es

fanden sich 21 klinisch relevante Krankheitszustände sowie darüber hinaus Leidenszustände, die noch keine medizinische Anerkennung als krankheitswertig erhalten haben (z.B. Verspannungen, Stress, Sprachstörungen), bei denen Cannabis als Hauptmedikation eingesetzt wurde.

Hier vergeht dem Kommentator jede Ironie, und es reicht nur noch für Klartext. Die Autorin verrät sich als bestürzend ahnungslos in allen medizinischen Belangen, denn anders kann man die umgangssprachliche Verwendung dieser Begriffe nicht erklären. Für sich genommen, würde man das Fachfremden nicht vorwerfen, doch der milde Tadel, den die hartleibige „Schulmedizin“ (Originalton) hier zu hören bekommt, entwaffnet jede Verteidigung. Bereits zwei Sekunden Googelei hätten sie davon abbringen sollen, einen derartigen Unfug in die Welt zu setzen. Verspannungen sind ein schlecht definierbares Symptom, aber als solches „anerkannt“. Stress ist ein vieldeutiger Begriff, ohne nähere Charakterisierung zur Bezeichnung von genau gar nichts verwendbar. Sprachstörungen können Zeichen verschiedenster Erkrankungen sein und teilen sich ein in … doch lassen wir’s gut ein.

Es handelt sich bei „INDICA“ um ein laufendes Projekt; auf irgendwelche Publikationen, Kongressberichte o. ä. wird nicht hingewiesen. Schade. Bei genauerer Überlegung aber meint man, dass es darauf auch nicht mehr ankommt. Es muss angenommen werden, dass es sich um einen Kranz völlig unkontrollierter, ungefilterter Anekdoten aus einem hochselektionierten Patienten/Probandenkollektiv handelt. Aus solchen Berichten lassen sich keine Schlüsse zur Effektivität einer Cannabistherapie bei Erkrankungen ziehen. Bei allen nachfolgenden weitläufigen Erwägungen, welche Cannabis-Verabreichung zu welchen Wirkungen führe, kann nicht sicher zwischen Vermutung und Spekulation unterschieden werden.

Die Ahnungslosigkeit von Soziologen scheint kein Bug zu sein, sondern ein Feature; jedenfalls ist sie kein Hinderungsgrund. Zumindest nicht dafür, in Fachgremien die Bundesregierung zu beraten: Frau Barsch war Mitarbeiterin in der Nationalen Drogen- und Suchtkommission beim Bundesministerium für Gesundheit. Der Vorreiter für diese Art Umgang mit der Realität ist Bruno Latour, der Begründer der soziologischen Laborforschung und gewesener Präsident der „Society for Social Studies of Science“. Er hat seinen Ehrenplatz in Alan Sokals Elegantem Unsinn, dem Panoptikum der postmodernen Denker. In der zweiten Auflage 1986 von Latours bahnbrechender Studie „Laboratory Life“ heißt es stolz:

In early October 1975, one of us entered Professor Guillemin’s laboratory for a two-year study of the Salk Institute. Professor Latour’s knowledge of science was non-existent; his mastery of English was very poor; and he was completely unaware of the existence of the social studies of science.
– Latour/Woolgar: Laboratory Life. Postscript to the second edition, 1986 (S. 273)

[Bei Beginn seiner Arbeit] hatte Professor Latour keinerlei Kenntnis der Wissenschaft; seine Englischkenntnisse waren sehr mangelhaft, und er wusste nichts von der Existenz soziologischer Untersuchungen der Wissenschaften.

Am besten versteht man, wenn man nichts versteht. Übrigens hatte Sokal seinerzeit einigen Staub aufgewirbelt, und Latour hatte sich genötigt gesehen, öffentlich Stellung zu nehmen. Er meinte, der Sokal-Hoax sei das Werk „einer sehr kleinen Anzahl theoretischer Physiker, die, von den fetten Pfründen des Kalten Krieges abgeschnitten, nach neuen Bedrohungen suchten“ [1].


  1. : „In an article in the French newspaper Le Monde, Latour glibly attributed the scandal [gemeint der Sokal Hoax] to the work of ‚a very small number of theoretical physicists, deprived of their fat Cold War budgets, [who] are searching for a new threat‘ and are targeting postmodern intellectuals (in Sokal 1997).“ Homayun Sidky: Science and Anthropology in a Post-Truth World: A Critique of Unreason and Academic Nonsense, Lexington Books 2021, S. 52.

Unabhängige Experten

$
0
0

In einer privaten Diskussion bin ich unlängst mit dem Argument konfrontiert worden, ein bestimmter „Experte“ sei unabhängig, da nicht an einer Universität beschäftigt.

Die Logik ist, kurz gesagt, daß ein Wissenschaftler an einer Universität nichts  publizieren könnte, was seinem Arbeitgeber nicht passt. Ein freiberuflich, als Autor und Vortragsreisender tätiger Experte wäre demgegenüber niemandem Rechenschaft schuldig und dadurch besonders unabhängig.

Im konkreten Beispiel ging es um den „Mann ohne Antworten“, Herrn Ganser, aber die  Argumentation ist natürlich nicht nur auf ihn gemünzt. Also kurz ein paar Kommentare dazu, gedacht für Menschen, denen das Innenleben einer Universität fremd ist:

1. Spätestens vom Professor an hat ein Wissenschaftler an einer Universität Narrenfreiheit. Wer das nicht glaubt- unser Wiki ist voll von Naturwissenschaftlern an Universitäten, die  absurdeste, beweisbar falsche Dinge behaupten (Meyl, Scheinriese TurTur)- und das seit Jahren. Warum sollte das in Fächern anders sein, die weniger scharf entscheidbar sind? Das heisst aber nicht, das alles geht- Prof. Meyl  darf seinen Unsinn zwar verbreiten- aber nicht in der Vorlesung. Die Universität hat ihm auferlegt, auf die Darstellung seiner Skalarwellen in Vorlesungen zu verzichte, bis er einen experimentellen Nachweis ihrer Existenz führen kann. Entlassen hat sie ihn nicht, dazu ist die Schwelle viel höher:
Es gibt gewisse Standards in der Wissenschaft- wer seine Experimente schlampig macht,  wer Zitierregeln nicht einhält- der bekommt früher oder später Ärger: Die Leitung einer Universität hat das Recht, das einzufordern und kann Verstöße saktionieren. Das ist wie ein Elektriker, der bei seinen Steckdosen einfach den Schutzleiter weglässt- geht,  eine Zeitlang. Ist aber trotzdem falsch und hat Konsequenzen.

Das Strafrecht gilt übrigens selbstverständlich auch (zB für Herrn Protsch) es bedarf aber erheblicher krimineller Energie seitens eines akademischen Übeltäters.

2. Was Geisteswissenschaften betrifft, ist eine Entscheidung richtig/falsch natürlich etwas schwammiger als bei einer Gleichung. Trotzdem- handwerkliche Prinzipien wie Zitierregeln greifen natürlich voll. Dazu kommt, daß es viele Universitäten gibt, mit einem Pluralismus an Meinungen und Forschungsansätzen. Wer also an einer Stelle nicht zurechtkommt, könnte prinzipiell einfach eine andere suchen- wenn die Qualität seiner Arbeit stimmt.

3. Das meiner Meinung nach Schlimmste ist aber, daß die Abhängigkeit von einer Institution durch
die Abhängigkeit vom Publikum ersetzt wird- das engt viel stärker ein. Das geht so:

Ich bin Wissenschaftler und untersuche X. Ok, ich muss erst mal jemand finden, der das finanziert, wenn
ich mehr Geld brauche als mein Gehalt hergibt. Es hindert mich aber niemand, Geld dafür einzuwerden (Drittmittel). Wenn ich diese Hürde genommen habe, kann ich losforschen. Bin ich fertig, schreibe ich darüber eine Publikation. Wahrscheinlich habe ich bisschen was Neues herausgefunden, aber nichts weltbewegendes. Ich schreibe daher, daß ich a, b und c probiert hatte, hat nix gebracht, aber d, das ist vielleicht was. Wenn ich das präzise aufschreibe, ist das eine wissenschaftliche Leistung. Nichts spektakuläres, aber das werden andere lesen, a, b und c gar nicht erst versuche, d probieren und davon inspiriert e entdecken. Prima! Vielleicht habe ich aber auch was Tolles entdeckt- umso besser.

Wenn ich aber kein Wissenschaftler bin, sondern Autor und Vorträge halte, die nicht an ein Fachpublikum
gerichtet sind, sondern Hallen füllen müssen- dann brauche ich Sensation, sonst kommt kein Publikum, kein Buchverkauf- und ich muss hungern. Habe ich nun aber keine echte Sensation- kann ich hungern oder schwindeln. Das ist, was diese „Experten“ abhängig macht. Sie ersetzen wissenschaftliche Arbeit, die Erkenntnisse liefern kann, durch den Verkauf eines auf das Zielpublikum zugeschnittenen Produkts. Die immer gleichen, von anderen längst beantworteten Fragen zu stellen, mag als Kleinkunst gelten. Unabhängige Wissenschaft ist es nicht.

Die Metaphysik des Krebsrisikos

$
0
0

Der Zuckerersatz Aspartam ist am 14. Juli 2023 von der IARC als „möglicherweise krebserregend“ eingestuft worden, Klasse IIb. Diese Nachricht findet reichlich Widerhall in den Medien. Wir nehmen als Beispiel den Bayrischen Rundfunk. Dort kann man einen Podcast von knapp acht Minuten Dauer hören:

Krebsrisiko durch Aspartam?
Magazin vom 14.07.2023

br.de/radio/bayern2/sendungen/iq-wissenschaft-und-forschung/magazin

Es gebe neue Belege: in Zellkulturen konnte man mit sehr hohen Dosen Mutationen häufiger machen, und in Tierversuchen erzeugten sie Krebsvorstufen. Der von der Reporterin befragte Experte selbst weist darauf hin, dass beides nicht dasselbe ist wie Krebs. Er erläutert weiter, dass es eine Menge Grundnahrungsmittel gibt, die in der gleichen Kategorie sind, oder eher noch, ähm, gefährlicher, Klasse IIa. Zucker selber sei gesundheitsschädlicher, „am besten Wasser und vergleichbare Getränke“ trinken, meint er. (– Aber was ist denn vergleichbar mit Wasser?)

„IIb“ heißt: möglich, aber nicht wahrscheinlich, dass es krebserregend ist, sagt der Experte.

Daraus ergibt sich: es muss prinzipiell von allen nicht hinreichend untersuchten Substanzen angenommen werden, dass sie „möglicherweise krebserregend“ sind, und was könnte man je hinreichend untersucht haben. Metaphysisch gesehen handelt es sich bei der Feststellung „nicht krebserregend“ schließlich um eine negative Existenzaussage, d. h. sie ist so gut wie nie zu belegen, und für jegliche praktische Belange muss man immer eine Sicherheitsgrenze annehmen, die man al gusto setzen oder verschieben kann. Hier handelt es sich nicht um einen naturwissenschaftlichen Fakt, sondern um eine Konvention: wieviel Risiko ist die Gesellschaft bereit zu tragen? Diese Sicherheitsgrenze ist regelhaft noch einmal ein bis zwei Größenordnungen geringer als die Konzentration des untersuchten Stoffs, bei der man erste (Surrogat-)Effekte sehen konnte.

Die IARC fasst diese Überlegungen selbst in einer übersichtlichen Grafik zusammen:

IARC Monographs Hazard Level Identification

Je unschädlicher, um so unsicherer die Aussage. Eine Kategorie „ungefährlich und adäquate Evidenz dafür“ ist nicht vorgesehen und kann es bei dieser Denkweise nicht geben.

Genügt das? Der IARC vielleicht, nicht aber der Menschheit. Zu einer wirklichen Risikoeinschätzung sieht die Agentur für Krebsforschung sich nicht verpflichtet. Unter der Grafik heißt es ausdrücklich:
Der Gipfel der Brauchbarkeit wäre erreicht, wenn quantitative Angaben zum Risiko verfügbar wären. Eine Steigerung der Inzidenz einer bestimmten Krebsart von 4 auf 4,5 pro 100.000 (d. i. eine Steigerung um 12,5%) könnte auch signifikant sein. Und selbst das wäre noch nicht die ganze Wahrheit, denn zu beachten sind auch die Risiken der Nicht-Exposition. Die völlige Vermeidung des gesichert krebserregenden Sonnenlichts (höchste Gefahrenklasse III) führt zu brüchigen Knochen wegen Vitamin-D-Mangels. Wer kein Fleisch isst, hat es schwerer, seinen Bedarf an B-Vitaminen zu decken – nicht gut für die Blutbildung.

Zurück zum Aspartam. Der Experte weist darauf hin, dass der Grenzwert bei Aspartam bei 40 mg/kg*d liegt, und dass der 70 kg schwere Erwachsene täglich 21 Liter [1] aspartamgesüßte Cola trinken müsste, um ihn zu erreichen. Daran schließt sich der folgende Wortwechsel an:

[Frage]: Wobei, wenn ich einem Grundschulkind 2 Flaschen solcherart gesüßte Getränke hinstelle, dann könnte das vielleicht schon an die Grenze kommen, bezogen auf das Körpergewicht, oder?
[Antwort]: Genau. Also das mit dem 40 mg/kg Körpergewicht muss man eben ausrechnen. […]

(Meine Hervorhebung.) Na, dann rechnen wir das doch aus, das kann doch nicht so schwierig sein: Ein Kind von 7 kg Körpergewicht muss mehr als 2 Liter Cola zero am Tag (und man weiß nicht, über wieviele Jahre) trinken, um in diesen Bereich zu kommen.

Ein Kind mit 7 kg Körpergewicht ist 5 Monate alt (50er Perzentile). Und einen Erstklässler von 6 Jahren (20 kg) müsste man schon mit 6 Litern täglich abfüllen, Prosit. Wenn ein Kind so viel trinken kann, dann hat es aller Wahrscheinlichkeit nach einen juvenilen Diabetes mellitus, was eine ganz andere Bedrohung als die Krebserregung ist. Jeder Gesunde wäre in der Gefahr, bei solchen Trinkmengen eine lebensgefährliche Wasservergiftung zu erleiden – und das ganz ohne Aspartam. Aber sich das klar zu machen, hätte wahrscheinlich zu wenig Panik ergeben – eine Entwarnung kann einfach nicht gegeben werden. Aus metaphysischen Gründen.

(c) Martin Perscheid hat das noch eindrucksvoller als die IARC visualisiert:

Auf Twitter


  1. 21 Liter: Wenn man nach quantitativen Angaben sucht, stürzt man übrigens in ein dunkles Loch. Der IARC-Bericht sagt, „200-300 mg“ pro can, aber was eine can ist, weiß man nicht. Coca Cola Schweiz sagt, 130 mg/l seien (in der Schweiz) als Maximalgehalt vorgeschrieben. Aus diesem Wert errechnet sich die Angabe „21 l/d“. Coca Cola Deutschland ist stumm wie ein Fisch. Sicher handelt es sich hier um Geschäftsgeheimnisse, und die Firmen werden nichts zu den Inhaltsstoffen sagen als das, wozu gezwungen werden können.

Die Deutschen und der Weltfrieden

$
0
0

Zeitgleich kann man heute Morgen erfahren: Erstens,

Putin ist davon überzeugt, dass die Rückkehr der Ukraine und der übrigen „historischen russischen Gebiete“ sowie die Wiederherstellung des Imperiums nur möglich sein wird innerhalb einer globalen Neuaufteilung der Welt. Eine solche Neuaufteilung kann 10-15 Jahre dauern, begleitet von Konflikten verschiedenen Ausmaßes und verschiedener Intensität und möglicherweise vom Atombombeneinsatz. Darüber hinaus wird der Krieg gegen die Ukraine vom Kreml als wichtige, aber nicht die einzige Front für Russland aufgefasst, das sich aktuell in einem Weltkrieg mit den Vereinigten Staaten und dem Westen als Ganzes befinde, sagte Lytvynenko in einer Kolumne für Interfax-Ukraine
https://en.interfax.com.ua/news/general/949391.html

(Mehr Einzelheiten im Text.) Hier spricht der Vertreter einer Kriegpartei, also ist das realistisch, plausibel? Völlig. Eine auch nur oberflächliche Wahrnehmung des russischen Auftretens auf der Weltbühne, noch mehr der russischen Inlandspropaganda, lässt keinen anderen Schluss zu. Und schon im Januar 2017 hatte der frischgewählte Präsident der USA und heutige Präsidentschaftskandidat in der Weltöffentlichkeit erklärt, dass die NATO obsolet sei.

Zweitens, die friedensbewegte Linke fordert:

Die Waffen müssen schweigen. Verhandlungen und Diplomatie sind das Gebot der Stunde.
Waffenexporte und Eskalationspolitik verschärfen Kriege und Krisen und verlängern sie.
Abrüstung! Ausgaben für das Militär senken, Milliarden in soziale Ausgaben investieren.
https://nie-wieder-krieg.org/wp-content/uploads/2023/10/flyer-ukraine-ini-2023-neu-2.pdf

Ist es zynisch, die Sanktionen zu verschärfen, die Waffenproduktion zu steigern? Nein. Zynisch ist etwas anderes. Zynisch ist die Haltung hinter dem „Friedensaufruf“. Wir wollen unser billiges, sicheres Erdgas wieder haben. Die Welt, gesehen vom deutschen Küchentisch aus, soll wieder so sein, wie sie vor dem Krieg war. Auf die Vernichtung der ukrainischen Städte, ein paar Hunderttausend umgebrachte und ein paar Millionen in Filtrationslagern „umerzogene“ Ukrainer, auf die Auslöschung ihrer Sprache und Kultur, kann es da nicht ankommen. Und wenn die Ukraine erst einmal befriedet ist, dann wird Russland den Frieden und die Freiheit der Russen im Baltikum und in Moldova schützen müssen.

Und die Politik? Reden wie Churchill, Handeln wie Chamberlain. Aber wenn man genauer hinschaut, sie reden nicht mal wie Churchill. Oder hat der Bundeskanzler jemals betont, der erfolgreiche Widerstand gegen die vormodernen Imperiumsbestrebungen Russlands mit Bomben, Drohnen, Artillerie und Raketen werde Anstrengungen erfordern? Und aktuell gleich gar nicht, denn im Moment weiß die Regierungskoalition nicht, wo ihr der finanzielle Kopf steht. In der Zukunft wird die Frage stehen, ob die kostbaren Taurus-Raketen für Litauen, Estland, Lettland geopfert werden sollten, Artikel 5 NATO-Vertrag hin oder her. Finnland war übrigens auch schon mal russisch. Kaczyńskis Deutschland-Flitz („Deutschland will Polen einverleiben“) ist schon deshalb absurd, weil dann die Deutschen für die Sicherung der polnischen Ostgrenze zuständig wären. Vom Kaukasus und von Mittelasien müssen wir nicht reden. Georgien, Armenien, Kasachstan usw. gehen uns nichts an; allenfalls:

Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker auf einander schlagen.

Die faschistische Strategie und Ideologie Putin-Russlands wird scheitern. Das wirtschaftliche und technologische Potential Russlands, von Korruption zerfressen, ist verglichen mit dem der westlichen Industrieländer geradezu lächerlich gering. Sie wird nicht scheitern, wenn „der Westen“ glaubt, die Bedrohung ohne Anstrengung, ohne Beunruhigung des deutschen Friedensmichels wegwedeln zu können.

Codex Humanus

$
0
0

Liebe Alternaive, Querlenker und anders Verstrahlte!

Immer wieder kommen aus eurer Ecke Anfragen zum „Codex Humanus“, einem depperten Sammelsurium der absurdesten alternativen Heilmethoden (AFAMMSStrophanthinZeolith …) die eine echte Alternative zum Gesundwerden bieten. Besonders amüsant finden wir wenn sich wieder jemand durch kolloidales Silber eine schöne, gesunde blaue Gesichtsfarbe einhandelt -für einen Schlumpf gesund. Immerhin, Doppelblindstudien haben ergeben, dass es gegen schmerzhafte Schwellungen am Geldbeutel hilft. Aber nur, wenn man es für 99 Euronen von einem energetisiert-verstrahlten Online-Shop bezieht.

Lädt man es dagegen völlig legal und kostenlos von archive.org:

hat es nicht einmal diese Wirkung.

Also überlegts euch.

Viewing all 588 articles
Browse latest View live